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30. Juni 2020 | von Thomas Gross11, Sabrina Morell1 Felix Amsler2

Inwieweit sind Suva-Fälle repräsentativ für alle schwerer Verletzten?

Obwohl die Schweiz über ein obligatorisches Versicherungssystem verfügt, fehlen detaillierte Informationen zu Behandlung und Outcome nach schwerem Trauma. Ziel dieser Auswertung eines grossen Schweizer Kantonsspitals und Traumazentrums war es, zu untersuchen, inwieweit die vom grössten Schweizer Unfallversicherer (Suva) versicherten Fälle für alle schwerer Verletzten repräsentativ sind.

Inhalt

      Einleitung

      In der Schweiz wurde 1911, etwas später als in den Nachbarländern Deutschland und Österreich, ein Bundesgesetz über die Kranken- und Unfallversicherung eingeführt. Seit der Revision der Unfallversicherungsgesetzes (UVG) im Jahr 1981 ist die Versicherung von Arbeitnehmern bezüglich direkten und indirekten Folgen von Berufs- und nicht-beruflichen Unfällen obligatorisch, 31 Unfallversicherungen sind dafür registriert [1, 2]. Aus internationaler Warte ist dabei vor allem bemerkenswert, dass alle in der Schweiz tätigen Arbeitnehmer gesetzlich verpflichtet sind, spezifisch gegen Unfälle versichert zu sein [3]. Nicht obligatorisch versichert sind Selbständige und nicht erwerbstätige Personen wie Hausfrauen/-männer, Kinder, Studenten und Rentner. Derart nicht obligatorisch Unfallversicherte sind in der Schweiz im Rahmen ihrer obligatorischen Krankenversicherung (KVG) gegen Unfälle versichert und können entsprechend aus ca. 60 registrierten Versicherungen auswählen [4]. Im Vergleich zum UVG ist der Leistungsumfang im Verletzungsfall jedoch geringer. Neben den von den Krankenkassen übernommenen Behandlungskosten profitieren UVG-Versicherte u. a. auch von einer finanziellen Entschädigung für eine nachfolgende Behinderung wie Rente oder Pflegegeld, welche auf der Grundlage des versicherten Einkommens der versicherten Person berechnet wird [1]. Aufgrund der Vielzahl involvierter Versicherungsgesellschaften und des bisherigen Mangels an standardisierten bzw. vollständigen Datenregistern sind die Informationsmöglichkeiten hinsichtlich Spektrum und Behandlung Verletzter in der Schweiz (vom Unfallereignis bis zum Langzeit-Outcome) sehr begrenzt. Für statistische Zwecke bzw. Publikationen werden daher neben den Angaben des Schweizer Bundesamtes für Statistik meist die medizinischen resp. versicherungstechnischen Daten des grössten Schweizer Unfallversicherers, der Suva, verwendet. Die Suva versichert gemäss eigenen Angaben etwa jeden zweiten Schweizer Mitarbeiter gegen die Folgen von Arbeits- und Nichtberufsunfällen [5].

      Laut Bundesamt für Statistik lebten 2016 rund 8,4 Millionen Einwohner in der Schweiz [6]. Gesamthaft versichert die Suva weniger als ein Drittel aller verletzten Personen in der Schweiz. Unternehmen besonders unfallträchtiger Branchen können gemäss UVG die Unfallversicherung nicht frei wählen, sondern müssen dies bei der Suva tun. Deshalb sind die verschiedenen Berufsgruppen sowie die von verschiedenen Versicherungsgesellschaften abgedeckten Verletzungs- und Versicherungsrisiken ungleich verteilt. Was die Qualität der Informationen zu Verletzungs- bzw. Behandlungsart und deren Folgen betrifft, können die von der Suva dokumentierten Fälle somit nicht per se als repräsentativ für alle Verletzten in der Schweiz angesehen werden. Nicht zuletzt anlässlich der kürzlichen Einführung der bundesweiten gesetzlichen Regelungen zur Schweizer hochspezialisierten Medizin (HSM) und den damit verbundenen Vorschriften betreffend Schwerverletztenversorgung wurde deutlich, dass essentielle demographische wie Behandlungs- und Outcome-Daten in diesem Bereich fehlen. Vor diesem Hintergrund verfolgte die hier präsentierte Untersuchung primär das Ziel, erstmals anhand über mehrere Jahre standardisiert erhobener Daten eines grossen Schweizer Traumazentrums Vergleichsangaben für ein (inter-) nationales Benchmarking zu ermöglichen. Es galt genauer zu analysieren, wie sich charakteristische Angaben bei schwerer Verletzter bezüglich Soziodemographie, Unfallspektrum, Behandlungsprozessen sowie Unfallfolgen unterscheiden, je nachdem, ob die betreffenden Patienten bei der Suva versichert sind oder nicht. Darüber hinaus sollte mit dieser Arbeit festgestellt werden, inwieweit die von der Suva erfassten Ergebnis- und Kostendaten grundsätzlich auf alle schwerer Verletzten in der Schweiz übertragen werden können.

      Entsprechend dieser Fragestellungen wurde diese Untersuchung unter drei verschiedenen Blickwinkeln an differierenden Studien-Teil-Kollektiven vorgenommen, jeweils Suva- versus nicht-Suva-Versicherte (zuerst in uni- und dann multivariater Analyse) vergleichend:

      A) Die Gesamtgruppe aller konsekutiv erfassten schwerer Verletzten,

      B) die Untergruppe aller Patienten im erwerbsfähigen Alter sowie

      C) die Untergruppe aller Schwerverletzten gemäss HSM-Definition im erwerbsfähigen Alter.

      Studiendesign und Methoden

      Diese Untersuchung wurde im Rahmen eines Qualitätskontrollprojektes (Ethikkommissionsgenehmigung AG/SO 2012-008) am Kantonsspital Aarau, einem Schweizer Traumazentrum, durchgeführt, welches offiziell für die Behandlung von Schwerverletzten im Rahmen der hochspezialisierten Medizin (HSM) designiert ist. Alle schwerer verletzten Patienten (New Injury Severity Score, NISS >8) im Alter von mindestens 16 Jahren, welche innerhalb von 24 Stunden nach erlittener Verletzung im Krankenhaus eintrafen, wurden fortlaufend in die Studie eingeschlossen. Methodische Details (inkl. genaue statistische Angaben) können der Originalpublikation [7] entnommen werden. Die einzelnen Behandlungsfälle wurden je nach zuständigem Grundversicherer in Suva- versus Nicht-Suva-Versicherte aufgeteilt. Die Untergruppe «Erwerbstätiger» wurde gemäss obligatorischem Erwerbsalter beginnend mit einem Alter von 16 Jahren bis zum gesetzlichen Rentenalter (Frauen 64 Jahre, Männer 65 Jahre) in der Schweiz definiert [8].

      Verletzungs-bezogene Variablen umfassten u. a. die Einstufung der Unfallenergie als hoch (Verkehrsunfall, Sturz von >3 Metern oder Schussverletzung) oder niedrig (alle anderen Fälle), mono- vs. mehrfachverletzt (AIS>0 in mindestens zwei Körperregionen), Polytrauma (mehrfachverletzt und ISS>15, ja/nein), die Glasgow Coma Scale (GCS; erster verfügbarer Wert) [9], den Glasgow Coma Scale and Arterial Pressure (MGAP) Score [10]; die Abbreviated Injury Scale (AIS) [11], den ISS und NISS nach Version 2005, Update 2008 des TraumaRegisters der Deutschen Trauma Gesellschaft (DGU®; http://www.traumaregister-dgu.de ) den alterskorrigierten Komorbiditätsindex Charlson [12], die Glasgow Outcome Scale (GOS) [13] sowie die erwartete risikobereinigte Sterblichkeit gemessen mit der Revised Injury Severity Classification 2 (RISC2) [14]. Zur Bestimmung Schwerverletzter wurde zudem die Definition der Schweizer HSM-Bedingungen verwendet: ISS >20 oder ein AIS Schädel-Hirn >3 [15]. Unter den Behandlungs-Variablen befand sich auch der mittlere Pflegeaufwand pro Patient (LEP®; http://www.lep.ch ). Die Kosten-Nutzen-Rechnung aus Spitalsicht erfolgte auf Basis der Kostenträgerabrechnung des Krankenhauses (Schweizer Franken, CHF). Die Angaben erfolgen je als Mittelwert +/- Standardabweichung (SD) oder N und Prozent. Alle statistischen Tests waren zweiseitig. Der Determinationskoeffizient R2 (erklärte Varianz) wurde benutzt, um der Stärke der jeweils identifizierten Unterschiede Ausdruck zu verleihen.

      Ergebnisse

      Gesamthaft wurden im Untersuchungszeitraum 2233 konsekutive Fälle gemäss Einschlusskriterien in die Studie eingeschlossen, davon waren 29,4 % bei der Suva versichert.

      A) Charakteristika bzgl. Soziodemographie, Verletzungsmuster und Behandlungsprozessangaben aller untersuchten Patienten bzw. im Vergleich zwischen Suva- und nicht-Suva-Versicherten sind in den Tabellen 1 und 2 wiedergegeben.

      Abbildung2_Representativitaet_Suva_Faelle.png

      Tabelle 1: Studienkohorte aller schwerer Verletzten (NISS>8; n=2233), spezifiziert je nach Suva-versichert ja / nein (kontinuierliche Variablen). Die Stärke der statistischen Beziehung und Signifikanz (R² bzw. p) findet Ausdruck in der Intensität der jeweiligen Farbe.
      GCS, Glasgow Coma Scale; (N)ISS, (New) Injury Severity Score; MGAP, Mechanism Glasgow Coma Scale Age and Arterial Pressure; RISC2, Revised Injury Severity Classification 2 (%); Charlson, Charlson comorbidity index; AIS, Abbreviated Injury Scale; GOS, Glasgow OutcomeScale; LEP total, mittlerer Pflegeaufwand pro Patient und Hospitalisation.

      Abbildung2_Representativitaet_Suva_Faelle.png

      Tabelle 2: Studienkohorte aller schwerer Verletzten (NISS>8; n=2233), spezifiziert je nach Suva-versichert  ja / nein (kategorische Variablen). Die Stärke der statistischen Beziehung und Signifikanz (R² bzw. p) findet Ausdruck in der Intensität der jeweiligen Farbe.
      IPS, Intensivpflegestation; ISS, Injury Severity Score; GCS, Glasgow Coma Scale; HSM, Hochspezialisierte Medizin; AIS, Abbreviated Injury Scale.

      In der univariaten Analyse fand sich der grösste statistische Unterschied zwischen Suva- und Nicht-Suva-Fällen im Alter, wobei Suva-Versicherte im Durchschnitt >20 Jahre jünger waren als Nicht-Suva-Versicherte (R2=0.23). Der Unterschied zwischen Suva- und Nicht-Suva-Fällen bzgl. Komorbidität gemessen im Charlson-Score, welche ebenfalls die Variable Alter enthält, lag ähnlich hoch (R2=0,21), wobei Suva-Versicherte im Mittel eine signifikant niedrigere alterskorrigierte Komorbidität aufwiesen als Nicht-Suva-Versicherte (p<0,001). Der drittgrösste Unterschied zeigte sich bezüglich des Geschlechts: 88,0 % der Suva-Versicherten waren männlich, bei den nicht Suva-Versicherten waren es 59,4 % (p<0,001; R2=0,08). In der multivariaten Analyse erklärten Alter und Geschlecht zusammen 37,5 % der Unterschiede zwischen Suva- und Nicht-Suva-Versicherten. Von allen anderen Variablen, welche in der univariaten Analyse (R2>0,01) und in der logistischen Regression als signifikant identifiziert wurden, machten der MGAP-Score, die Tatsache häufigerer chirurgischer Eingriffe oder mehr Fälle mit einem anfänglichen GCS<13 sowie eine geringere erwartete Sterblichkeit für Suva-versicherte Patienten zusammen weitere 3,6 % des beobachteten Unterschiedes aus. Andere Faktoren wie Gesamttraumaschwere (NISS), Notwendigkeit einer Intensivstationsbehandlung oder Dauer des Krankenhausaufenthaltes ergaben keine zusätzliche signifikante Erklärung zum Unterschied zwischen Suva- und nicht-Suva-versicherten Verletzten.

      B) In der Analyse allein der Patienten im erwerbspflichtigen Alter (n=1264, Tabellen 3 und 4), zeigte der Vergleich von Nicht-Suva-Versicherten (49,4 %) mit Suva-Versicherten (50,6 %), dass letztere häufiger männlich waren (87,8 % vs. 63,0 %; p<0,001, R2=0,08). In der multivariaten Analyse erklärte das Geschlecht 11,0 % der Differenz zwischen den beiden Versicherten-Gruppen. Darüber hinaus wiesen die Suva-Erwerbstätigen häufiger chirurgische Eingriffe und einen höheren mittleren initialen MGAP auf (zusammen 2,5 % Varianz).

      Abbildung3_Representativitaet_Suva_Faelle.png

      Tabelle 3: Vergleich der Subkohorten (kontinuierliche Variablen) schwerer Verletzter im erwerbsfähigen Alter (n=1264), je nach Suva- versichert ja/ nein und Traumaschwere (HSM vs. non-HSM-Traumafälle). Die Stärke der statistischen Beziehung und Signifikanz (R² bzw. p) findet Ausdruck in der Intensität der jeweiligen Farbe.
      GCS, Glasgow Coma Scale; (N)ISS, (New) Injury Severity Score; MGAP, Mechanism Glasgow Coma Scale Age and Arterial Pressure; RISC2, Revised Injury Severity Classification 2 (%); Charlson, Charlson comorbidity index; AIS, Abbreviated Injury Scale; GOS, Glasgow Outcome Scale; LEP total, mittlerer Pflegeaufwand pro Patient und Hospitalisation.

      Abbildung4_Representativitaet_Suva_Faelle.png

      Tabelle 4: Vergleich der Subkohorten (kategorische Variablen) schwerer Verletzter im erwerbsfähigen Alter (n=1264), je nach Suva- versichert ja/ nein und Traumaschwere (HSM vs. nicht-HSM-Traumafälle). Die Stärke der statistischen Beziehung und Signifikanz (R² bzw. p) findet Ausdruck in der Intensität der jeweiligen Farbe.
      IPS, Intensivpflegestation; ISS, Injury Severity Score; GCS, Glasgow Coma Scale; HSM, Hochspezialisierte Medizin; AIS, Abbreviated Injury Scale.

      C ) In der spezifischen Untergruppe Schwerverletzter (gemäss HSM-Definition) im erwerbsfähigen Alter (n=576) erwies sich univariat ebenfalls das Geschlecht als grösster Unterschied zwischen Suva- und nicht-Suva-Versicherten (Tab. 3 und 4). In der nachfolgenden multivariaten Analyse erklärte das Geschlecht 9,1 % der Varianz, zudem waren Suva-Patienten öfter polytraumatisiert und hatten schwerere Wirbelsäulenverletzungen erlitten, bei zugleich geringerer Krankenhaussterblichkeit (zusammen 5,9 % Varianz; Tab. 5 ).

      Abbildung5_Representativitaet_Suva_Faelle.png

      Tabelle 5: Schrittweise logistische Regression zur Vorhersage von Suva-(versus nicht-Suva-) Versicherten MGAP, Mechanism Glasgow Coma Scale Age and arterial pressure; GCS, Glasgow Coma Scale; RISC2, Revised Injury Severity Classification 2 (%); AIS, Abbreviated Injury Scale.

      Diskussion

      Für den internationalen Vergleich und ein angestrebtes sogenanntes “Benchmarking“ sind repräsentative regionale bzw. nationale Daten unerlässlich. Angesichts fehlender anderer Quellen bzw. verlässlicher Informationen betreffend der Charakteristika, Behandlungsabläufe und dem Outcome schwerer Verletzter in der Schweiz und der damit verbundenen Frage, wie vergleichbar die von der Suva (als grösstem Schweizer Unfallversicherer) versicherten Fälle mit denen anderer Versicherer sind, wurde diese erste umfassende Traumazentrum-Untersuchung konzipiert. Es galt, Suva-Versicherte systematisch nicht-Suva-Versicherten gegenüberzustellen in Bezug auf grundlegende soziodemographische Merkmale, Verletzungsmuster, Behandlungsprozesse und Kurzzeit-Outcome-Parameter. Die daraus resultierenden Ergebnisse sollten anhand einer Traumazentrum-Kohorte beispielhaft grundlegende Informationen darüber liefern, inwieweit Suva-Daten – auch in Hinblick auf Langzeitergebnisse und Kosteninformationen – überhaupt auf andere (erwachsene) schwerer Verletzte übertragen werden können.

      Die vorliegende Studie ergab vier wesentliche Ergebnisse:

      Erstens wurden, unabhängig von den untersuchten Kohorten, keine Unterschiede in der Gesamttraumaschwere (ISS oder NISS) zwischen Suva- und nicht-Suva-Versicherten festgestellt. Dieses Ergebnis war angesichts der sonstigen signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen in der Charakterisierung von Alter, Geschlecht oder beruflichem Status überraschend. Wir fanden für die Schweiz keine Literaturangaben, welche bis dato eine detaillierte Beschreibung der Unterschiede bzgl. der Charakteristika Verletzter und ihrer Behandlung sowie ihres Outcomes in Abhängigkeit des Unfallversicherungsstatus boten. Unter den bei uns versorgten schwerer Verletzten war jeder vierte Patient Suva-versichert. Neben der angestrebten Datenbeschreibung resultierten aus unserer Untersuchung zudem mehrere unerwartete Beobachtungen. So hätte man beispielsweise für Personen, welche Suva versichert sind, durchaus eine höhere mittlere Traumaschwere erwarten können, da im verarbeitenden Gewerbe Tätige, (welche häufiger seitens Suva versichert sind als von anderen Versicherungsgesellschaften,) ein höheres Unfallrisiko am Arbeitsplatz im Vergleich zum Dienstleistungssektor aufweisen (97/1000 vs. 51/1000) [16, 17]. Eine mögliche Erklärung für diese auf den ersten Blick erstaunliche Beobachtung könnte die Tatsache sein, dass gemäss Bundes-Statistik Arbeiter im primären und sekundären Sektor der Agrarwirtschaft und der Industrie eine höhere Rate von Arbeitsunfällen verzeichnen, wohingegen im tertiären Dienstleistungssektor Beschäftigte in einem höheren Prozentsatz Nichtberufsunfälle erleiden [16]. Zudem hätten wir, angesichts der häufiger jüngeren und männlichen Suva-Versicherten im erwerbsfähigen Alter mit einer deutlich höheren Traumaschwere unter den Suva-Versicherten vs. nicht-Suva-Versicherten gerechnet [18]. Allerdings weist die jüngere Literatur auf eine zunehmende Rate schwerer Verletzungen bei älteren Menschen hin, bei trotz verschiedenem Unfallmuster vergleichbarer Verletzungsschwere sowie ähnlichem Outcome (zumindest bis zu einem Alter von 80 Jahren) wie bei jüngeren Patienten [19-21]. Unsere Traumazentrum-Kohorte scheint diese Beobachtungen zu bestätigen.

      Zweitens waren insgesamt gesehen Suva-Patienten im Mittel deutlich jünger als nicht Suva-Versicherte und noch häufiger männlich, als dies für schwerer Verletzten meist berichtet wird [22, 23]. Der Geschlechter-Unterschied lässt sich durch die ungleiche Berufsgruppenverteilung zwischen den beiden Versicherten-Gruppen erklären, wobei unfallgefährdetere Berufe häufiger bei der Suva versichert sind und von Männern ausgeübt werden [23]. Aufgrund der Tatsache, dass die Unfallversicherer sowohl Berufs- als auch Nichtberufsunfälle abdecken und wir nicht über die sichere Information verfügten, um welche Berufsgruppen- bzw. Unfallart es sich jeweils handelte, konnten die Auswirkungen des festgestellten Risiko-Ungleichgewichts zwischen den beiden Versicherungsgruppen in dieser Studie nicht näher untersucht werden. Aus statistischer Sicht waren alle übrigen Unterschiede zwischen den Gruppen Suva- und nicht-Suva-Versicherter zusammengenommen etwa 1/10 so wichtig (3,6 % Varianz) wie Alter und Geschlecht zusammen (37,6 %). Das wahre Ausmass des beobachteten Komorbiditätsunterschiedes sollte in zukünftigen, noch grösseren Untersuchungen überprüft werden. Für die Beobachtung, dass Suva-versicherte Patienten seltener Schweizer waren, gibt es unseres Erachtens zwei Hauptgründe: (1) Entsprechend Einwanderungsmuster ist der Ausländeranteil in der jüngeren Generation höher als in der älteren; (2) trotz einer gegenläufigen Entwicklung in den letzten Jahren sind ausländische Arbeitnehmer im Durchschnitt nicht so gut ausgebildet wie schweizerische, sodass die Mehrheit der ausländischen Versicherten eher in unfallträchtigeren Berufen arbeitet [24, 25] und somit eher bei der Suva versichert ist.

      Drittens erwies sich in unserer Studie nur das Geschlecht als wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Gruppen, sofern sich der Vergleich zwischen Suva- und nicht-Suva-Versicherten allein auf die Personengruppe im erwerbsfähigen Alter beschränkt. Interessanterweise waren die beobachteten Unterschiede vergleichbar (und nicht kleiner) mit denjenigen, wie wir sie für die Gesamtkohorte der schwerer Verletzten zeigten. Es fand sich allerdings multivariat kein Altersunterschied zwischen Suva- und nicht-Suva-Erwerbstätigen. Diese Beobachtung liesse sich zum Teil damit erklären, dass eine offensichtlich andere Unfall- und Behandlungs-Charakterisierung im Vergleich Älterer gegenüber Jüngeren sich erst im ganz hohen Lebensalter findet, z. B. bei Menschen ab dem achtzigsten Lebensalter [21]. Weitere Merkmale, welche Suva-versicherte Erwerbstätige charakterisierte, wenn auch weniger ausgeprägt (zusammen 2,5 % Varianz, d. h. etwa 1/5 so wichtig wie das Geschlecht), waren eine höhere Rate an chirurgischen Eingriffen und ein durchschnittlich höherer MGAP früh nach Unfall.

      Viertens analysierten wir vor dem Hintergrund des kürzlich inaugurierten Schweizerischen Traumaregisters (STR; https://adjumed.com/kunden/str/ ), in welchem alle in einem der 12 Traumazentren der Schweiz behandelten Schwerverletzten gemäss HSM-Definition gesammelt werden, speziell diese HSM-Unterkohorte unseres Studienkollektives, um diesbezügliche Unterschiede zwischen Suva- und nicht-Suva-Fällen festzustellen. Dies vor allem auch, weil eines der Ziele der schweizweiten Schwerverletztenerfassung dem Langzeit-Outcome dieser Patienten galt. Dieses HSM- bzw. STR-Unterfangen liess sich allerdings bis zum heutigen Tage u. a. aus juristischen Bedenken bzgl. Versicherungsinformationen wie Arbeitsunfähigkeits- oder Berentungsrate nicht umsetzen. Da Suva-Versicherungsangaben nur für Versicherte im erwerbsfähigen Alter vorliegen, begrenzten wir analog unsere Analyse auf HSM-Traumafälle der entsprechenden Altersperiode. Dabei zeigte sich, dass HSM-Suva-Fälle tendenziell zu einem noch höheren Prozentsatz männlich waren als bereits das Grundkollektiv aller untersuchten Patienten dies erkennen liess. Dies passt zu der bekannten Tatsache, dass Schwerverletzte häufiger männlich sind [18]. Demgegenüber waren die übrigen Variablen, welche Suva-versicherte HSM-Patienten typischerweise charakterisieren, wie z. B.ein höherer Anteil an Polytraumata, schwerere Wirbelsäulenverletzungen und eine niedrigere Krankenhaussterblichkeit, zusammengenommen mehr als halb so wichtig (5,9 % Varianz) wie das Geschlecht. Die signifikant niedrigere Sterblichkeit Suva-versicherter HSM-Patienten im Vergleich zu Nicht-Suva-Versicherten erscheint ausgeprägter, als aufgrund ihrer geringeren Komorbidität bzw. risikoadjustierten Morbidität zu erwarten wäre. Da die HSM-Subkohorte die kleinste Untergruppe unseres Gesamt-Studienkollektives darstellte, müssen die gefundenen statistischen Zusammenhänge allerdings vorsichtig interpretiert werden. Angesichts der Tatsache, dass zurzeit keine detaillierten Vergleichs-Informationen über die Charakteristika Schwerverletzter gemäss HSM-Definition in der Schweiz vorliegen, gilt es u. a. zukünftige Register-Daten abzuwarten, um adäquate Vergleiche bzw. Extrapolationen durchführen zu können. In einer Pilotstudie mit der Suva am Kantonsspital Aarau konnten vor kurzem erstmals für die Schweiz für schwerer Verletzte systematisch prospektiv erhobene 4-Jahres Outcome-Angaben detailliert analysiert werden [26]. Als Konsequenz dieser Pilotergebnisse könnten analog zu unserem Vorgehen zukünftig anhand des Schweizer Traumaregisters geeignete Suva-Angaben gewonnen bzw. verifiziert werden. Entsprechend wäre, unter Beachtung der beschriebenen Einschränkungen, damit die Möglichkeit für eine internationale Referenzierung möglich. Bislang werden allerdings im Schweizer Traumaregister Versicherungsinformationen aufgrund der beschriebenen rechtlichen Unsicherheiten nicht obligat erfasst, obwohl dies ursprünglich vorgesehen war. Im Sinne einer sinnvollen Qualitäts- und Outcome-Kontrolle wäre folgerichtig zu fordern, dass der Gesetzgeber angesichts eines obligaten Schwerverletzten-Datenregisters auch die Möglichkeiten für eine reibungslose Überführung von entsprechenden Versicherungsdaten in ein solches Traumaregister gewährleistet. Bis zur Bestätigung durch andere Schweizer Traumazentren beschränken sich die hier vorgestellten monozentrischen Daten auf das vorgestellte Kollektiv des Kantonsspitals Aarau, im Mittelland der Schweiz, als eines dieser zwölf Zentren.

      Zusammenfassung

      Hintergrund und Ziele: Obwohl die Schweiz über ein obligatorisches Versicherungssystem verfügt, fehlen detaillierte Informationen zu Behandlung und Outcome nach schwerem Trauma. Ziel dieser Auswertung war es, zu untersuchen, inwieweit die vom grössten Schweizer Unfallversicherer (Suva) versicherten Fälle für alle schwerer Verletzten repräsentativ sind. Methoden: Traumazentrum-Analyse aller >16-jährigen Verunfallten mit einem New Injury Severity Score (NISS)>8. Vergleich der Charakteristika von Suva- versus Nicht-Suva-Fällen (Chi-Quadrat; univariat erklärte Varianz R2; multivariate logistische Regressionsanalyse, Nagelkerke R2). Ergebnisse: Über einen Zeitraum von sieben Jahren wurden gesamthaft 2233 Verletzte im Krankenhaus behandelt, von denen 29,4 % Suva-versichert waren. Im Vergleich zu nicht Suva-Versicherten waren Suva-Fälle durchschnittlich jünger (41,6 vs. 64,2 Jahre; R2=0,23) und häufiger männlich (88,0 % vs. 59,4 %; R2=0,08). In der multivariaten Analyse erklärten diese beiden Faktoren zusammen 37,5 % der Unterschiede zwischen den Gruppen. Keine weiteren untersuchten Faktoren erklärten mehr als 2 %. Sofern nur Patienten im erwerbspflichtigen Alter betrachtet wurden (n=1264), waren Suva-Fälle (50,6 %) häufiger männlich als nicht Suva-Versicherte (n=562 [87,8 %] vs. n=393 [63,0 %]; p<0,001, R2=0,08). In der multivariaten Analyse erklärten alle anderen untersuchten Faktoren zusammen weitere 2,6 % der Varianz. In der Untergruppe Schwerverletzter gemäss HSM-Definition im erwerbsfähigen Alter (n=576) erwiesen sich Suva-Versicherte (n=277; 48,1 %) in der Multivariatanalyse als signifikant häufiger männlich (9,1 % Varianz) sowie häufiger polytraumatisiert mit im Mittel schwereren Wirbelsäulenverletzungen und einer geringeren Spitalletalität (zusammen 5,9 % Varianz) als Nicht-Suva-Versicherte.

      Schlussfolgerungen: Jeder vierte erwachsene schwerer Verletzte eines Schweizer Traumazentrums erwies sich als Suva-versichert; demgegenüber war es je fast jeder zweite im erwerbsfähigen Alter. Schwerer Verletzte mit oder ohne Suva-Versicherung können aus statistischer Sicht dann als vergleichbar angesehen werden, wenn ihre Angaben hinsichtlich Alter und Geschlecht adäquat kontrolliert bzw. korrigiert werden. Andere Unterschiede zwischen Suva- und nicht-Suva-Versicherten sind nur marginal. Unter Beachtung der beschriebenen Einschränkungen sollten typische Qualitätsparameter des Schwerverletztenmanagements verlässlich als Schweizer Referenzstatistik und somit auch Outcome-Angaben der Suva für den internationalen Vergleich verwendet werden können.

      Korrespondenzadresse

      Prof. Dr. Thomas Gross
      Traumatologie
      Kantonsspital Aarau, Tellstrasse 1
      5001 Aarau


      Klinik für Traumatologie, Kantonsspital Aarau, Tellstrasse1, CH-5001 Aarau

      Amsler Consulting, Gundeldingerrain 111, CH-4059 Basel

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      Diese Studie wurde in ausführlicher Version original auf Englisch im Journal of Insurance Medicine veröffentlicht (“To What Extent Are Main Accident-Insurer Cases Representative of All Significantly Injured? A Swiss Monocenter Perspective”, Journal of Insurance Medicine 2019, online ahead of print, 24.4.2019) und mit der Einwilligung des Editors Dr. MacKenzie für Suva Medical überarbeitet und bzgl. tabellarischen Originaldaten-Angaben gekürzt. Weitere Daten-Details können dort nachgelesen werden. Es liegen keine potenziellen Interessenkonflikte vor. Die Autoren bedanken sich bei allen involvierten Patienten wie Mitarbeitenden des Kantonsspital Aarau.

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