Marc Höglinger1, Fabio Knöfler2, Rita Schaumann-von Stosch3,4, Stefan Scholz3, Klaus Eichler1
Hausärztinnen und Hausärzte, d. h. Allgemeinmediziner und Internisten in freier Praxis, alleine, in Gruppenpraxen oder als Angestellte in Ärztezentren haben eine wesentliche Funktion im Schweizer Gesundheitssystem: sowohl als Anbieter ambulanter Grundversorgung generell [1,2], als auch in der Versorgung von Patienten nach einem Unfall. So stehen 15 % aller Hausarztbesuche im Zusammenhang mit Unfällen [3]. Die Schweiz hat mit 83 Hausärzten pro 100'000 Einwohner eine hohe Versorgungsdichte im internationalen Vergleich [4].
In den letzten Jahren hat sich die Rolle der Hausärzte in der primären Grundversorgung aber in vielerlei Hinsicht verändert. Erstens werden Patienten zunehmend direkt in der Notaufnahme von Spitälern betreut, auch bei kleineren Verletzungen, für welche Hausärzte im Prinzip eine geeignete Versorgung anbieten könnten [5,6]. Mögliche Erklärungen für diese Entwicklung sind die Unwissenheit der Patientinnen und Patienten über die von Hausärzten abgedeckten traditionellen Notfalldienste, das Fehlen eines persönlichen Hausarztes, die geografische Nähe zu einem Spital oder die subjektiv empfundene Dringlichkeit der Behandlung [7,8]. Zweitens gibt es, wie auch in Holland oder Deutschland, eine eher tiefe und kontinuierlich abnehmende Zahl von Hausärzten in ländlichen Gebieten [9]. Dies ist ein Problem, das sich in naher Zukunft verschärfen wird. Denn es mangelt an jungen Hausärzten, die die alternde Hausarztpopulation ersetzen könnten [10]. Drittens scheinen sich die von Hausärzten durchgeführten Behandlungen geändert zu haben. Laut einer Umfrage unter Hausärzten führten sie 2012 im Vergleich zu 1993 seltener traumatologische Versorgungen durch und der Anteil der Hausärzte, die nie chirurgische Eingriffe durchführen, stieg von 0 % auf 9 % – allerdings mit grossen regionalen Unterschieden [11]. Schliesslich sind angehende Hausärzte in der Schweiz seit kurzem nicht mehr verpflichtet, das Fachgebiet Traumatologie während der medizinischen Weiterbildung zum Facharzt abzudecken.
Diese Entwicklungen haben auch die Rolle der Schweizer Hausärztinnen und Hausärzte hinsichtlich der Behandlung von Unfallpatienten tangiert. Unter anderem zeigt sich für die letzten Jahre eine deutliche Abnahme in der Unfall-Erstversorgung durch Hausärzte zugunsten ambulanter Behandlungen in Notfallstationen von Spitälern [12]. Wie aber schaut die Situation aktuell genau aus? Unser Beitrag präsentiert Analysen zur gegenwärtigen Bedeutung der hausärztlichen Grundversorgung im Feld der Unfallmedizin und zeigt auf, mit welchen Verletzungen die hausärztliche Praxis konfrontiert ist.
Wir analysierten alle Schadenfälle der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) von 2014, welche eine medizinische Versorgung erforderten (N=331'786). Ausgeschlossen wurden Fälle mit Patienten jünger als 18 und älter als 65 Jahre, im Ausland lebende Patienten, Fälle mit primär Zahnverletzungen sowie Fälle ohne Behandlung durch die von uns betrachteten Versorger (z. B. ausschliesslich Physiotherapie). Uns standen Informationen über den Zeitpunkt des Unfalls und die Verletzung gemäss Angaben im Unfallmeldeformular zur Verfügung, und die Abrechnungsdaten ermöglichten uns, die Versorgungswege von Patienten zu rekonstruieren. Wir extrahierten dazu den Zeitpunkt des ersten Patientenkontakts für einzelne Versorgergruppen wie Hausärzte, Spezialisten oder Spitäler* und bestimmten so, wer (a) als Erstversorger fungierte, wer (b) nur in der Nachversorgung involviert und wer (c) gar nicht beteiligt war. Wir unterscheiden so verschiedene Versorgungsketten: z. B. die Fälle, in denen Hausärzte Alleinversorger, d. h. als einzige Versorgergruppe involviert waren, von den Fällen, in denen Hausärzte die Erstversorgung übernahmen und die Patienten Nachversorgung im Spital erhielten.
Versorgergruppen sind wie folgt definiert:
Radiologen, Apotheker, Physiotherapeuten, Zahnärzte oder Rettungsdienste haben wir bei der Konstruktion der Versorgungsketten nicht berücksichtigt, da sie in der Regel eine ergänzende Funktion bei der Behandlung durch einen Hauptversorger haben.
*Über die Anzahl und den Zeitpunkt allfälliger nachfolgender Kontakte mit demselben Versorger oder anderen Versorgern derselben Versorgergruppe haben wir keine Angaben.
Unfallverletzungen, welche medizinische Versorgung erfordern, sind mehrheitlich von geringem Schweregrad. Dies lässt sich mit unseren Daten aus der generell kurzen Dauer der Arbeitsunfähigkeit und den niedrigen Fallkosten ableiten: 53 % der Unfälle führten zu keiner Arbeitsunfähigkeit oder zu einer Arbeitsunfähigkeitsdauer von drei Arbeitstagen oder weniger. 31 % der Fälle führten zu 4 bis 10 Arbeitstagen Abwesenheit, 16 % zu zwei Wochen oder mehr. Der Median der erstatteten direkten medizinischen Kosten pro Unfall betrug 427 CHF (Durchschnitt: 2260 CHF; 25. Perzentil: 213 CHF, 75. Perzentil: 1204 CHF). Die beanspruchte medizinische Versorgung bestand entsprechend in der Hälfte der Unfälle aus typischerweise ein oder zwei Konsultationen mit einer kleineren Untersuchung bzw. Behandlung.
Unsere Daten zeigen klar: Zentrale Anlaufstelle für Unfallpatientinnen und -patienten sind die Hausärztinnen und Hausärzte. 54 % aller Unfallpatienten, welche eine medizinische Behandlung benötigten, wandten sich für die Erstversorgung an Hausärzte, 35 % bezogen Erstversorgung ambulant im Spital, 8 % bei einem Spezialisten und 3 % wurden nach dem Unfall direkt stationär im Spital versorgt (Abbildung 1 links). Der hohe Stellenwert der Hausärzte zeigt sich auch, wenn ihre Rolle in der gesamten Versorgungskette betrachtet wird (Abbildung 1 rechts). 41 % der Unfallpatienten wurden ausschliesslich durch Hausärzte betreut, 13 % bezogen Erstversorgung bei Hausärzten und anschliessend eine Nachversorgung durch Spezialisten oder im Spital und bei 16 % der Fälle übernahmen Hausärzte ausschliesslich die Nachversorgung. Bei nur 29 % der Unfälle waren Hausärzte in keiner Weise involviert.
Abbildung 1: Unfall-Erstversorgung nach Versorgergruppe (links) und Rolle der Hausärzte in der Versorgungskette (rechts). 2014, N=331,786. SE der Schätzer ist <0.01 Prozentpunkte.
Hausärzte → Spezialist: Erstversorgung durch Hausärzte, Follow-Up durch Spezialisten, z. B. FMH in orthopädischer Chirurgie, Augenarzt
Hausärzte → Spital ambulant/stationär: Erstversorgung durch Hausärzte, Follow-Up im Spital ambulant/stationär.
Vergleicht man alle aufgetretenen Verletzungen (Abbildung 2 links) mit denjenigen, bei denen Hausärzte die Erstversorgung übernahmen (Abbildung 2 rechts), so zeigen sich auf den ersten Blick kaum Unterschiede. Hausärzte sind bei der Erstversorgung denn auch mit dem gesamten Spektrum der Unfallverletzungen konfrontiert und die Anteile der verschiedenen Verletzungen (Verletzungstypen und betroffene Körperteile) sind sehr ähnlich. Einige Ausnahmen gibt es: Frakturen wurden leicht unterproportional von Hausärzten erstversorgt, Frakturen an Schulter, Unterarm und im Gesicht praktisch gar nicht. Ebenso, wenig erstaunlich, wurden Augenverletzungen meist von Augenärzten und nicht von Hausärzten behandelt. Dennoch verbleibt ein beträchtlicher Anteil an Frakturen und selbst Augenverletzungen, welche von Hausärzten erstversorgt wurden.
Abbildung 2: Verletzungstyp und betroffenes Körperteil aller Verletzungen (links, N=331,786) und Verletzungen mit Erstversorgung durch Hausärzte (rechts, N=179’971). 2014. Die Flächen einzelner Verletzungen sind proportional zu ihrem Auftreten.
Prozentangaben nur für Verletzungen mit einem Anteil von mind. 1 % an allen Verletzungen. Lesebeispiel grösste hellblaue Fläche: «Distorsionen Unterschenkel, Knöchel, Fuss» machen 9 % aller Verletzungen aus, welche eine medizinische Behandlung nach sich ziehen (links). Sie machen 10 % aller Verletzungen aus, welche durch Hausärzte erstversorgt werden (rechts).
Hausärzte üben, je nach Art der Verletzung, unterschiedliche Funktionen in der Behandlungskette aus. Abbildung 3 zeigt dies für einige ausgewählte Verletzungen. Während Hausärzte z. B. bei 51 % der Fuss- und Knöcheldistorsionen als Alleinversorger fungierten, taten sie dies nur bei 10 % aller Frakturen des Unterschenkels, Knöchels oder Fusses. Aber selbst für letztere Verletzungsart waren Hausärzte bei gesamthaft 33 % der Fälle Erstversorger (Summe der oberen vier Zeilen in Abbildung 3) und bei weiteren 39 % in der Nachversorgung involviert. Nur bei 28 % der Fälle waren sie in keiner Weise involviert.
Abbildung 3: Rolle der Hausärzte in der Versorgungskette bei ausgewählten häufigen Verletzungen. 2014, N=100’901.
Hausärzte → Spezialist: Erstversorgung durch Hausärzte, Follow-Up durch Spezialist, z. B. FMH in orthopädischer Chirurgie, Augenarzt.
Hausärzte → Spital ambulant/stationär: Erstversorgung durch Hausärzte, Follow-Up im Spital ambulant/stationär.
Lesebeispiel Spalte links: Bei 29 % der Knie-Distorsionen agieren Hausärzte als alleinige Versorger, 18 % werden für die Nachversorgung ans Spital ambulant weiterverwiesen (1 % stationär), in 17 % der Fälle sind Hausärzte in die Nachbehandlung involviert, bei 24 % der Fälle sind Hausärzte in keiner Weise involviert.
Während es je nach Verletzung grosse Unterschiede in der Häufigkeit verschiedener Rollen der Hausärzte gibt, so sind Hausärzte doch bei praktisch allen Verletzungen in irgendeiner Art involviert, oft gar als Erstversorger. Der primäre Prädiktor für die Rolle der Hausärzte in der Versorgungskette ist die Verletzungsschwere – und weniger die Art der Verletzung bzw. das betroffene Körperteil. Leider verfügen wir über keine direkten Angaben zur Verletzungsschwere. Unsere Analysen zeigen aber deutlich, mit welch vielfältigen Verletzungen Hausärztinnen und Hausärzte konfrontiert sind, und dass sie bei praktisch allen Verletzungen eine zentrale Anlaufstelle sind – sei dies als Erstversorger, als Alleinversorger oder in der Nachversorgung.
Hausärztinnen und Hausärzte sind mit einem sehr breiten Spektrum von Verletzungen konfrontiert und benötigen die entsprechenden traumatologischen Fähigkeiten wie Stellen einer korrekten Verletzungsdiagnose, Nähen, Gipsen, Schienen, Beratung der Patienten über die Nachversorgung und Beurteilung einer allfälligen Arbeitsunfähigkeit. Dies ist insbesondere von Bedeutung, um der in den letzten Jahren beobachtbaren Abnahme der Unfall-Erstversorgung durch Hausärzte zugunsten von ambulanten Behandlungen in Notfallstationen entgegenzuwirken. Für die Unfall-Erstversorgung durch Hausärzte gibt es gute Gründe: Die Patientenzufriedenheit mit der ambulanten Notfallversorgung durch Hausärzte ist sehr hoch und unterscheidet sich nicht von der ambulanten Notfallversorgung im Spitalnotfall [13]. Die Kosten der ambulanten Notfallversorgung (unfall- und krankheitsbedingte Gesundheitsprobleme) durch Hausärzte sind aber tiefer, unter anderem weil diagnostische Massnahmen sparsamer eingesetzt werden [14,15]. Erste Analysen unserer Daten bestätigen diese Befunde für die Versorgung von Unfallpatienten: Rund ein Drittel des 11%igen Anstiegs der Heilkosten für Unfälle mit ausschliesslich ambulanter Behandlung im betrachteten Zeitraum (von 768 CHF in 2008 auf 853 CHF in 2014) sind mit der Abnahme der Unfall-Erstversorgung durch Hausärzte assoziiert [16]. Massnahmen, welche die Unfallversorgung durch Hausärzte stärken, dürften also auch einen dämpfenden Effekt auf den Anstieg der Gesundheitskosten haben.
Danksagung: Wir danken dem Suva-Forschungsfonds für die Finanzierung der diesem Beitrag zugrundeliegenden Studie.
1Institut d’économie de la santé de Winterthour, Haute école zurichoise des sciences appliquées, Winterthour
2 XUND – centre de formation Santé Suisse centrale
3 Suva, Lucerne
4 SSTMA – Société Suisse de Traumatologie et de Médecine des Assurances
Dr. Marc Höglinger
Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie
Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften
Gertrudstrasse 15
8401 Winterthur