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Asbest – die unterschätzte Gefahr

Bis in die Siebzigerjahre galt Asbest als ein hitzebeständiger, elastischer, säurefester Alleskönner, als ein idealer und vielseitig verwendbarer Werkstoff. Doch mit der einstigen «Wunderfaser» verbindet sich ein unheilvolles Kapitel der Industriegeschichte. Lange wurden die Gefahren unterschätzt.

Inhalt

      1939, als die Suva erstmals einen Fall von Asbestose als Berufskrankheit anerkannte, wusste man zwar, dass Asbest zu den Stoffen gehörte, die gefährlich für die Atemwege waren. Damals galt die Aufmerksamkeit aber der Silikose – der Staublunge (siehe Abb.), die durch das Einatmen von Quarzsand entstand und sich seit 1930 zu einer eigentlichen Epidemie entwickelte.

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      Hunderte von Arbeitern in Tunnel- und Bergbaubetrieben, in Kies- und Schotterwerken, aber auch in Giessereien und Keramikwerken waren bereits an der Silikose erkrankt. Für die Ärzte und Unternehmen, aber auch für die Suva war klar, wo die Prioritäten lagen.

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      Giesserei Sulzer in Winterthur 1940, Foto Paul Senn, FFV, Kunstmuseum Bern, Dep. GKS © GKS

      Asbestose-Fälle waren bis in die Sechzigerjahre selten. 1947 erwähnten Friedrich Zollinger, Oberarzt der Suva, und sein Stellvertreter, Fritz Lang, in einem gemeinsamen Artikel über die Silikose, dass es bisher auch «einige Asbestosen, bei denen es sich aber in jeder Beziehung um ein ganz anderes Krankheitsbild als bei der Silikose handelt», gegeben habe. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte man 4 Fälle gezählt. In den Fünfzigerjahren waren es 5. Dem standen mehr als 5000 Silikose-Fälle gegenüber.

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      Asbestfaser

      Asbest erst 1953 auf der «Giftliste»

      Sowohl die Silikose als auch die Asbestose sind Staublungenkrankheiten, sogenannte Pneumokoniosen. Damit sie als Berufskrankheiten galten, mussten die auslösenden Stoffe – Kieselsäure (Quarz) beziehungsweise Asbest – auf der «Giftliste» des Bundes stehen. Für die Aufnahme eines Stoffes war der Bundesrat zuständig; die Suva machte Vorschläge.

      Bereits die Anerkennung der Silikose war ein Kampf. Sie erfolgte erst 1938 – auf massiven Druck zunächst der Gewerkschaften und Ärzte, dann auch der Suva. 1932 hatte der Suva-Verwaltungsrat entschieden, Silikose-Fälle auf freiwilliger Basis zu entschädigen.

      Gleich ging er mit den Fällen von Asbestose-Erkrankungen um. Leistungen wurden auch ohne die gesetzlichen Grundlagen erbracht. Diese wurden erst 1953 geschaffen, als Asbest (zusammen mit Carborundum und Aluminium) in die bundesrätliche Verordnung über die Berufskrankheiten aufgenommen wurde. Gleichzeitig wurden die Grenzwerte für Asbestfasern in der Luft um den Faktor 10 gesenkt.

      Von der Asbestose zum Mesotheliom

      Anfänglich kannte die Wissenschaft nur eine Form der Asbesterkrankung – die Asbestose, die durch das Einatmen von Asbestfasern entsteht und zu einer Vermehrung des Bindegewebes in der Lunge führt. Sie war in ihrem Krankheitsverlauf mit der Silikose vergleichbar.

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      Dann aber, 1964, machte der amerikanische Lungenfacharzt und Asbestkritiker, Irving Selikoff, auf eine neue Krebsform aufmerksam – das sogenannte Mesotheliom. Wer an einem Mesotheliom, einem bösartigen Tumor im Brustfellbereich, erkrankte, starb innerhalb von wenigen Monaten. Selikoff präsentierte seine Erkenntnisse an einer Konferenz in New York, in Europa stiess er zu diesem Zeitpunkt noch auf wenig Beachtung. Heute weiss man, dass Mesotheliome durch mikroskopische Asbestfasern hervorgerufen werden und in der Regel erst 20 bis 40 Jahre nach der Asbesteinwirkung auftreten.

      1967 auf dem Suva-Radar

      In den offiziellen Unterlagen der Suva manifestierte sich die Frage der Asbestgefahr erstmals in einem Abschnitt des Geschäftsberichtes von 1967.

      ««Einige schwere Staublungenfälle» hätten die Anstalt «zu eingehenden Erhebungen über die Gefährdung durch Asbeststaub, insbesondere bei der Verwendung von Asbest zu Isolierzwecken im Waggonbau sowie auf Baustellen im Spritzverfahren» veranlasst.»

      1968 wurde ein neues Messverfahren für Asbeststaub eingeführt, die ärztlichen Prophylaxe-Untersuchungen von Arbeitern schlossen nun routinemässig auch Asbest ein.

      1967 trat der erste Mesotheliom-Fall auf. Vorerst blieb es aber bei Einzelfällen, bis 1982 wurden 50 Fälle gezählt. 1982 schrieb der Chefarzt der Suva, Hans Schlegel, das Mesotheliom sei bereits die häufigste Berufskrebsart in der Schweiz (mit 11 Fällen und einem Anteil von rund 70 Prozent). Danach stieg der jährliche Zuwachs rasant: 1987 waren es 21 Fälle, 1997 bereits 68, 2002 wurden 122 Neuerkrankungen registriert. Noch heute – aufgrund der langen Latenzzeit – sterben jährlich mehr als 100 Menschen an der asbestbedingten Krebsart.

      «Keine Gefährdung durch Asbeststaub»

      In den Siebzigerjahren rückte die Asbestthematik in das Bewusstsein von Politik und Öffentlichkeit. Und auch die Suva rüstete weiter auf – in der Labortechnik, in der Kontrolle der asbestverarbeitenden Unternehmen. 1975 wurden die Grenzwerte verschärft, die zu einem faktischen Verbot der gefährlichsten Asbestanwendung – des Spritzasbests – führte.

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      Spritzasbest an Stahlträger

      Es war ein entscheidender Schritt, denn tatsächlich gingen sowohl die Einfuhr als auch die Verarbeitung von Asbest zurück – nach 1978 brach er innerhalb von drei Jahren auf einen Viertel der bisherigen Mengen ein. Allerdings wurde der Schritt, wie man heute weiss, überschätzt.

      Was wie eine Entwarnung tönte, widerspiegelte den Wissensstand der Zeit. Die grosse Bedeutung der Mesotheliome konnten – angesichts der Latenzzeit von 20 bis 40 Jahren – weder die Bundesbehörden noch die Suva erahnen.

      Politik macht Druck

      Auf der politischen Bühne häuften sich aber die Vorstösse – vor allem aus Kreisen der SP, der Partei der Arbeit und von Werner Carobbio, dem Vertreter der Autonomen Sozialistischen Partei aus dem Tessin. 1978 erkundigte er sich nach dem Ausmass der Asbestgefahr. Diese relativierte der Bundesrat in seiner Antwort: «Von den rund 79 000 der Suva unterstellten Betrieben verarbeiten 40 Betriebe mit insgesamt 1251 obligatorisch versicherten Arbeitnehmern regelmässig Asbest.» Dabei handle es sich vorwiegend um Textilfabriken, um Betriebe, die Bremsbeläge oder Isolationen herstellten, sowie um Asbestzementfabriken.

      Auch für die Suva gab es Gründe, die Asbestgefahr in den damaligen Relationen zu sehen. Noch immer war die Silikose in ihren Fallzahlen mindestens fünf Mal so bedeutend wie die Asbestose, ganz zu schweigen von den Mesotheliomen, von denen es bis Ende der Siebzigerjahre nur vereinzelte Fälle gab.

      Einen wunden Punkt traf Roger Dafflon, Nationalrat der Partei der Arbeit aus Genf, in einem Vorstoss von 1978. Er wollte wissen, warum die Suva nicht ihre gesetzliche Möglichkeit nutze, um eine Meldepflicht für krankheitserzeugende Berufsarbeiten einzuführen. In seiner Antwort verwies der Bundesrat darauf, dass man die Frage in Zusammenhang mit der Revision des Unfallversicherungsgesetzes geprüft habe, dass in der Vernehmlassung von 1976 aber «ein Bedürfnis hiefür von keiner Seite geltend gemacht» worden sei. Auch seien ihm «die grossen Fortschritte, die in den letzten Jahren in der Prophylaxe der Berufskrankheiten erzielt werden konnten, bekannt».

      Auf die gleichen Fortschritte berief sich auch die Suva und intensivierte die Präventionsbemühungen. 1983 schuf sie, um Asbestfasern zu identifizieren, ein neuartiges Rasterelektronenmikroskop an, gleichzeitig verdoppelte sie die Zahl der Schadstoffmessungen in Asbestbetrieben.

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      Rasterelektronenmikroskop, 1983

      Beschwichtigung in den Medien

      Dennoch wurde die Tragweite der langfristigen Asbestfolgen noch nicht erkannt. Auch der Bundesrat sah keinen Grund zu Massnahmen. 1981 lehnte er ein Asbestverbot ab, und 1983 antwortete er auf eine Anfrage von Werner Carobbio, dass Schutzmassnahmen nicht nötig seien, weil alle Erkrankungen, die in Zusammenhang mit Asbest ständen, bereits als Berufskrankheiten anerkannt würden.

      Nicht nur in der Politik, auch in den Medien fand das Thema aber keine Ruhe. 1985 stellte die Suva fest, dass «die Diskussion in den Massenmedien … in weiten Teilen der Bevölkerung zu einer gewissen Beunruhigung» geführt habe. Sie verschickte deshalb zwei Medienmitteilungen, «um die Auseinandersetzung zu versachlichen und die Öffentlichkeit über die tatsächliche Gefährdung des Menschen durch Spritzasbest aufzuklären».

      Auf die Frage, ob der Aufenthalt in Räumen mit Spritzasbestdecken gefährlich sei, antwortete die Suva: «Nach dem heutigen Wissensstand» müsse «nicht mit einer Gefährdung der Gesundheit gerechnet werden», schrieb sie 1984. Tatsächlich, so weiss man heute, ist die Belastung in Räumen um ein Tausendfaches tiefer, wenn nicht an Asbest gearbeitet wird. Dann liegen die Messwerte in der Regel unter der Nachweisgrenze.

      Wie gross das Bedürfnis nach Informationen in der Öffentlichkeit war, zeigten die Reaktionen auf einen Brief der Suva, der 1985 an alle Gemeinden ging. Ziel der Suva war es, Ratschläge und Empfehlungen abzugeben, wie bei der Beurteilung und Sanierung von Spritzasbest-Objekten umzugehen sei. Aufgrund des grossen Interesses habe man «Hunderte von telefonischen Auskünften» erteilt.

      1986 äusserte sich die Suva zu den Gefahren für die Angestellten in Betrieben, die mit Asbest arbeiteten. Sie stellte eine positive Entwicklung fest: «In den weitaus meisten der rund 85 asbestverarbeitenden Betriebe» sei der Asbestverbrauch «in den letzten Jahren markant zurückgegangen», schrieb sie. Zudem hätten die Messungen in «den meisten Betrieben» ergeben, dass «die Asbestexposition des Personals … deutlich unter dem zulässigen Grenzwert» liege.

      Sanierung auf Hochtouren

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      Asbestentfernung mit Schutzmassnahmen

      Auch in der Folge blieb die Suva nicht untätig. Inzwischen war die Sanierung von Asbestobjekten angelaufen, die Suva erstellte Merkblätter über das «Bearbeiten und Verwenden von Asbest und asbesthaltigen Produkten», konzentrierte sich auf die Messung und Kontrolle von Ersatzstoffen und überwachte die Sanierungsarbeiten. Grundlage für die Sanierungen war damals unter anderem eine Liste des Bundesamtes für Umwelt, Wald und Landschaft. 1987 listete diese rund 3200 Objekte auf, die Spritzasbest-Isolierungen enthielten. 2002 war etwa ein Drittel der Gebäude saniert.

      Weiterhin war von Mesotheliomen kaum die Rede. Und auch die politische Diskussion verstummte nach 1990, als sich der Bundesrat – doch noch – zu einem generellen Asbestverbot (mit einer Übergangsfrist bis 1994) durchrang. Zu diesem Zeitpunkt tendierte der Import von Asbest für die Verarbeitung in der Schweiz bereits gegen den Nullpunkt.

      1990 gehörte die Schweiz nach den meisten nordischen Ländern und Ungarn zu den ersten Ländern, die sowohl die Produktion und Einfuhr als auch die Verwendung von Asbest verboten. Die grossen Asbestproduzenten wie Russland, China oder Kanada, aber auch die USA und die meisten Schwellen- und Entwicklungsländer kennen noch heute kein Asbestverbot. Weltweit wird heute noch die Hälfte der Asbestmengen aus den Rekordzeiten der Siebzigerjahre abgebaut und verarbeitet. 2017 tagten die Teilnehmerstaaten des Rotterdamer Übereinkommens über den Handel mit gefährlichen Chemikalien («Rotterdam Convention») in Genf. Erneut sprach sich die Suva für ein weltweites Asbestverbot aus, und erneut – auch 2017 nicht – kam es unter den 159 Mitgliedstaaten zu keiner Einigung.