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Zwei Anläufe und ein deutsches Vorbild

Das erste grosse Sozialwerk der Schweiz entstand nach deutschem Vorbild. Es war die Antwort auf die sozialen Probleme, die Folge der Industrialisierung waren. In der Schweiz brauchte es aber zwei Anläufe, bis die Unfallversicherung auch eine Volksmehrheit fand. Eine erste, umfassende Vorlage, die noch eine obligatorische Krankenversicherung vorsah, scheiterte 1900, die schlankere Version wurde 1912 zur Grundlage der neuen Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt.

Inhalt

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      Volksküche des Kriegsfürsorgeamtes Drei Rosen in Basel während des ersten Weltkrieges

      Armut galt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als selbstverschuldet. Wer arm war, hatte eine Charakterschwäche, war nicht arbeitswillig oder verschwendungssüchtig. Die wahren Ursachen lagen in den Übeln der Zeit – in der mangelnden Bildung und im Alkohol.

      Dazu kam die Industrialisierung, die sowohl die Mobilität der Menschen als auch die Produktivität der Arbeit erhöhte, die aber auch neue Gefahren schuf. Menschen verliessen ihre angestammten Strukturen und begaben sich in eine Lohnabhängigkeit, die sich rächte, wenn die Arbeit ausfiel – sei es, weil es keine Arbeit gab, oder wegen eines Unfalls.

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      Werkhalle der Firma Sulzer um 1900

      «Laissez-faire» und Liberalismus versagten

      Für die Armenfürsorge waren die Gemeinden zuständig – auf dem Papier noch weit bis in das 20. Jahrhundert hinein. Diese waren mit der neuen Armut überfordert. Hinzu kam, dass sich die alten Sicherungssysteme – die patronale Fürsorge aus der Zeit des Ancien Régime, die gegenseitige Hilfe in der Familie, aber auch die bäuerliche Selbstversorgung – im Laufe des 19. Jahrhunderts aufgelöst hatten. Das neue «Laissez-faire» des freien Unternehmertums und die liberale Grundhaltung versagten in der Versorgung und Absicherung der schwächsten Mitglieder der Gesellschaft.

      Nicht nur in Deutschland, auch in der Schweiz wurden die sozialen Missstände offensichtlich. 1887 reagierte der Bund, indem er den Alkoholzehntel einführte und erstmals Geld an die Gemeinden überwies – für die Armutsbekämpfung. Gleichzeitig bemühten sich die Kantone und Gemeinden, das System der Volksschulen auszubauen.

      Ruf nach dem Staat

      Politisch führten die Armut und das Elend der Arbeiter zu einer neuen Bewegung. Die sozialistische Linke erstarkte und begann, den sozialen Frieden zu gefährden. Gleichzeitig forderten die organisierte Arbeiterschaft und die radikal-demokratische Bewegung, die um 1860 entstand, dass sich der Staat um die Versicherung von Arbeitern gegen Krankheit und Unfall kümmere. Dabei schaute man wiederum über die Grenze nach Deutschland.

      Bereits seit 1871 gab es dort ein Reichshaftpflichtgesetz. In der Schweiz wurde der Arbeiterschutz mit der Verfassungsrevision von 1874 zu einer Bundesaufgabe. 1875 fand die Haftpflicht erstmals Eingang in das schweizerische Recht – mit dem «Bundesgesetz betreffend Haftbarkeit von Eisenbahnen bei Verletzungen».

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      Arbeiterinnen an Maschinen und an Fliessbändern in der Nahrungsmittelindustrie, nach 1900

      Ein erster Schritt: Haftpflicht

      1877 wurde die Haftpflicht auf die Fabriken ausgeweitet. Das neue Fabrikgesetz, das auch Schutzbestimmungen für Frauen und Kinder vorsah, wurde in einer Referendumsabstimmung am 21. Oktober 1877 mit einem knappen Ja-Stimmen-Anteil von 51,5 Prozent angenommen. Es schrieb erstmals Arbeitssicherheitsmassnahmen vor und führte die privatrechtliche Haftpflicht für Betriebsinhaber ein. Diese hafteten nun für Schäden, die von Unfällen oder Berufskrankheiten herrührten. Später wurde die Haftpflicht auf das Baugewerbe und die Fuhrhalterei ausgeweitet.

      ««Die gemietete Arbeitskraft des Menschen ist dem entlehnten Kapital gleichzuhalten. Der Unternehmer haftet nicht nur für diesen, sondern auch für jenen ihm überlassenen Produktivfaktor.»»

      Dies war die Logik der Zeit, wie sie Ludwig Forrer in seiner «Denkschrift» von 1889 zusammenfasste. Forrer war Nationalrat und Arbeiteranwalt aus Winterthur, er schrieb den ersten Gesetzesentwurf für ein Kranken- und Unfallversicherungsgesetz.

      «Versicherung heisst die neue Parole»

      Denn schon bald zeigten sich die Nachteile der Haftpflichtregelung und die ersten Rufe nach einer obligatorischen Versicherung wurden laut. In den meisten Streitfällen war die Betriebshaftpflicht nicht durchsetzbar. Sie bildete ein finanzielles Risiko für Unternehmer, wenn sich ein Unfall mit mehreren Arbeitern ereignete. Auf der anderen Seite hatten die «gemietheten Arbeitskräfte» kaum das Geld für Prozesse. Zudem gab es keinen Kündigungsschutz und die Schadensumme war auf 6000 Franken begrenzt.

      Ludwig Forrer prägte die denkwürdige Formel: «Versicherung heisst die neue Parole. Haftpflicht bedeutet den Streit, Versicherung den Frieden.» Schon das blosse Wort habe «einen wohlthuenderen Klang», schrieb er in seiner «Denkschrift» von 1889, die eigentlich ein juristisches Gutachten für den Bundesrat war.

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      Bismarck-Karikatur aus der Zeitschrift «Der wahre Jakob», 1884

      Bismarck wies den Weg

      Und wiederum blickte man nach Deutschland. Reichskanzler Fürst Otto von Bismarck hatte dort eine umfassende Sozialversicherung für Deutschland angekündigt. Er tat dies am 17. November 1881 bei der Eröffnung des Deutschen Reichstages im Namen des erkrankten Kaiser mit der sogenannten «Kaiserlichen Botschaft», die heute als die «Magna Charta» der deutschen Sozialgesetzgebung gilt. Sie war eine Reaktion auf das Scheitern eines ersten Anlaufs für eine Unfallversicherung und ein Ausgleich zu den gesetzgeberischen Repressionen gegen die sozialistische Arbeiterbewegung. Sie enthielt das sozialpolitische Programm für den Aufbau einer Sozialversicherung mit Unfall-, Kranken- und Rentenversicherung. Hauptziel war die Absicherung der Industriearbeiterschaft.

      • 1883 erliess der Reichstag zunächst ein Krankenversicherungsgesetz.
      • 1884 folgte das Unfallversicherungsgesetz, das auch die Unfallverhütung einschloss.
      • 1889 wurde auch die Invaliditäts- und Altersversicherung eingeführt.
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      Die deutsche Sozialversicherung, Plakat 1914

      1885 als «sozialpolitisches Wendejahr»

      In der Schweiz gilt 1885 als das «sozialpolitische Wendejahr». Angeregt durch das deutsche Vorbild war es Wilhelm Klein, Nationalrat der Freisinnigen aus Basel, der sich mit einer Motion für eine «allgemeine, obligatorische Arbeiter-Unfall-Versicherung» einsetzte. Klein war auch Arbeitsinspektor gewesen. In seiner Begründung erklärte er, dass jährlich 1700 Arbeiterfamilien in der Schweiz wegen Unfällen verarmten. Immer mehr Menschen beschäftigten sich mit dem Instrument, das für die radikale Umgestaltung der sozialen Verhältnisse verantwortlich sei – die Maschine.

      «Eine allgemeine Versicherung sei deshalb «erleuchteter Sozialismus … im Interesse aller … der Reichen wie der Armen.»

      Tatsächlich erkannten auch «die Reichen», dass sie mit der bisherigen beschränkten Haftpflicht nicht in der Lage waren, ihre Verantwortung wahrzunehmen – weder für ihre Arbeitskräfte noch für ihre Unternehmungen. Dies war entscheidend, denn Politik – auch Sozialpolitik – war in dieser Zeit nur möglich, wenn die radikaldemokratischen und liberalen Parteien, die sich 1894 zur FDP zusammenschlossen, hinter einem Anliegen standen. Noch war der Einfluss der Katholisch-Konservativen und der Arbeiterparteien marginal. Die sozialdemokratische Partei entstand erst 1888 – auf der Grundlage der sozialen Probleme.

      Volkszählung vorgezogen

      Den ersten Schritt zu einem Sozialversicherungssystem machte die Schweiz in der Volksabstimmung vom 26. Oktober 1890. Mit einem Ja-Stimmen-Anteil von 75,4 Prozent wurde der Artikel 34 bis in die Bundesversammlung aufgenommen. Dieser verpflichtete den Bund, eine gesetzliche Kranken- und Unfallversicherung einzurichten.

      Bereits vor der Abstimmung hatten die Vorbereitungsarbeiten für ein allgemeines Unfallversicherungsgesetz begonnen. So wurde die Volkszählung (auch mit Blick auf die Nationalratswahlen von 1890) um zwei Jahre auf 1888 vorverlegt, gleichzeitig wurde eine Zählung der Unfälle vom 1. April 1888 bis am 31. März 1891 angeordnet.

      Damit begannen die statistischen Planungsarbeiten, was damals noch weitgehend das Beschreiten von Neuland bedeutete. 1891 wurde die Stelle eines eidgenössischen Versicherungsmathematikers geschaffen; die Mathematik wurde in diesem Zusammenhang auch als eine Wissenschaft der «berechnenden Mildtätigkeit» bezeichnet.

      25 Mal mehr Todesfälle als heute

      Die statistischen Erhebungen des ersten Jahres zeigten, dass sich 1020 Todesfälle aufgrund von Betriebsunfällen ereigneten (auf 936 424 Beschäftigte). Das sind – gemessen an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen – 25 Mal mehr als heute. Die Erhebungen bewiesen, dass sich die Unfall- und Todesfallzahlen in der Schweiz nicht von den Erfahrungswerten in Deutschland unterschieden.

      Nach dem deutschen Vorbild entwarf Ludwig Forrer deshalb die erste Vorlage für ein Kranken- und Unfallversicherungsgesetz in der Schweiz, die bald als «Lex Forrer» bekannt wurde. Forrer führte seine Ideen am 24. März 1885 im Nationalrat aus:

      «Das Richtige sei, das deutsche System in seinen Grundzügen zu adoptiren und unseren republikanisch-demokratischen Prinzipien gemäss umzugestalten. Wir versichern nur die Abhängigen und Dienenden, nur die Arbeitenden.»

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      Don Quichote kämpft gegen die Sozialversicherung.

      58 Kommissionssitzungen, 400 Gesetzesartikel

      58 Sitzungen der Nationalratskommission waren nötig, um die Gesetzesentwürfe zu beraten. Anfänglich gingen die Meinungen weit auseinander, dann herrschte aber Einstimmigkeit – um

      «einer Reform baldmöglichst zum Durchbruch zu verhelfen, welche in so hohem Masse dem in unserer heutigen Gesellschaft lebenden Bedürfnis nach Hebung und Schutz der Schwachen und nach socialer Solidarität entspricht,»

      wie es im Abschlussbericht der Kommission vom 30. Juni 1897 heisst.

      Forrer hatte eine komplexe Vorlage geschaffen, die 400 Gesetzesartikel umfasste und eine obligatorische Kranken- und Unfallversicherung für die meisten Lohnabhängigen vorsah. Sie war ein grosser Wurf.

      Heterogene, aber starke Gegnerschaft

      Ein zu grosser Wurf, wie sich herausstellte. Vor allem die obligatorische Krankenversicherung rief eine heterogene Gegnerschaft auf den Plan, die sich aus liberalen Antizentristen der Westschweiz, aus Konservativen, aus privaten Versicherungsgesellschaften und teilweise aus der Bauern- und Arbeiterschaft rekrutierte. Das Gesetz stiess auf den Widerstand der westschweizerischen Sociétés de secours mutuels und der katholischen Sozialpolitiker, die um ihre Kassen fürchteten.

      Eine kleine Gruppe von Journalisten und ein Ostschweizer Textilunternehmen ergriffen das Referendum gegen das Gesetz, das von allen Parteien und den Wirtschaftsverbänden unterstützt wurde. Sie waren politische Aussenseiter, sammelten aber innert kürzester Zeit genügend Unterschriften, um das Gesetz vor das (ausschliesslich männliche) Volk zu bringen. In der Referendumsabstimmung vom 20. Mai 1900 scheiterte die «Lex Forrer» mit einem enttäuschenden Ja-Stimmen-Anteil von nur 30,2 Prozent. In den Kantonen Wallis und Neuenburg betrug der Ja-Stimmen-Anteil nicht einmal 10 Prozent. Ein einziger Kanton sagte Ja: Glarus. Glarus hatte schon 1846 die Kinderarbeit verboten und 1864 das erste Fabrikgesetz der Schweiz erlassen.

      Sehr hohe Stimmbeteiligungen

      Die politische Konstellation der Abstimmung von 1900 wiederholte sich in den meisten Sozialversicherungsabstimmungen bis Ende der Dreissigerjahre. Während die politischen Gremien für eine Vorlage eintraten, formierte sich der Widerstand ausserhalb von Bern. Meistens vereinigte er die föderalistischen Argumente der Westschweizer, die sich gegen die Zentralisierung wehrten, und die finanzpolitischen Argumente der Deutschschweizer, die Angst vor den Folgekosten hatten, zu einer starken Allianz. Immer war die Stimmbeteiligung überdurchschnittlich hoch. 1900 und 1912 lag sie bei 65 Prozent. Normal waren in dieser Zeit rund 50 Prozent.

      In der Abstimmung von 1900 wehrten sich auch Teile der Arbeiterschaft gegen den gesetzlichen Versicherungsschutz. Sie fürchteten die Verstaatlichung der betrieblichen Hilfskassen, an deren Verwaltung sie beteiligt waren und die häufig der einzige Ort waren, an dem Arbeitnehmer über Mitbestimmungsrechte verfügten. Dies galt auch für die katholischen Kassen. Zahlen über diese privatrechtlichen Vorsorge- und Unterstützungskassen gab es nur ansatzweise. Forrer schrieb 1889 von 1423 «Kranken- und Hülfskassen», schätzungsweise deckten sie 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung.

      Politik der kleinen Schritte

      Nach dem deutlichen Scheitern der «Lex Forrer» war in der Frage der Sozialversicherungen nur noch eine Politik der kleinen Schritte möglich. 1902 wurde der unbestrittene Gesetzesartikel über die Militärversicherung, der auch Teil des «grossen Wurfes» von Forrer war, in Kraft gesetzt. Forrer selber war geknickt. 1894 hatte er noch den Ehrendoktortitel der Universität Zürich für sein sozialpolitisches Engagement erhalten, nun zog er sich aus Enttäuschung über die Abstimmungsniederlage aus dem Nationalrat und aus der Politik zurück.

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      Allerdings nur für kurze Zeit. 1904, als der Bundesrat beschloss, einen zweiten Anlauf für ein Kranken- und Unfallversicherungsgesetz, war Forrer selber bereits Bundesrat. Diesmal plante er ohne ein Obligatorium in der Krankenversicherung und schlug in seiner Botschaft vom 19. Dezember 1906 sogar Bundessubventionen für die bestehenden Kassen vor. Was die obligatorische Unfallversicherung anbelangte, entsprach das Gesetz weitgehend den Bestimmungen in der Vorlage von 1899, die 1900 an der Urne scheiterte.

      Usteri übernimmt das Zepter

      Nun aber war es nicht mehr der Nationalrat, der sich in die Vorlage vertiefte, sondern der Ständerat unter der Führung von Paul Usteri aus Zürich. Usteri war Direktor der Schweizerischen Lebensversicherungs- und Rentenanstalt, Vizepräsident der Schweizerischen Nationalbank und er präsidierte die vorberatende Kommission des Ständerates.

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      Gemäss den Vorstellungen des Bundesrates war die Anstalt als ein Teil der Bundesverwaltung konzipiert. Usteri krempelte die Vorlage um und setzte führte die organisatorische und rechtliche Unabhängigkeit der neuen Unfallversicherungsanstalt durch. Er lehnte sich dabei an seine Erfahrungen als Mitbegründer und Vizepräsident der Nationalbank an, die 1906 nach dem gleichen Muster – ausserhalb der Bundesbürokratie – gegründet wurde. Wovor ihm graute, war die Schaffung einer Institution gleich der SBB, die «beinahe ein Überbein der Bundesverwaltung» sei, wie er am 5. April 1910 in der Ständeratsdebatte ausführte.

      Bundesrat auf Irrwegen

      Usteri sorgte auch für verlässliche Berechnungsgrundlagen. Er bemängelte, der Bundesrat habe

      «seine Berechnungen über das Betriebsrisiko ausschliesslich auf fremden Materialien aufgebaut, namentlich auf den Zahlen der Unfallstatistik der Versicherungsanstalten der österreichischen Kronländer»

      Er sei damit «nicht auf die wirklich bestimmenden Faktoren des schweizerischen Unfallrisikos eingegangen». Ausgerechnet das österreichische System sei von schweren Defiziten geprägt. Usteri brachte die «Winterthur»- und die «Zürich»-Versicherung dazu, ihre Erfahrungszahlen der Arbeiterunfallversicherung herauszugeben.

      Gegenüber der Vorlage von 1899 schränkte er den Kreis der Versicherten ein und bestand auf einer sauberen Trennung von Betriebs- und Nichtbetriebsunfallversicherung. Weiterhin waren die hauptsächlichen Branchen der industriellen Berufe und des Gewerbes gedeckt (Industrie, Bau, Installation, Transport, Metall-, Holz-, Steinbearbeitung). Ebenso fielen die Bundesbahnen und die Postverwaltung unter das Obligatorium. Damals wie heute war die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt als ein selbständiges, öffentlich-rechtliches Unternehmen organisiert, das von den Betroffenen, das heisst von den Versicherten und den Arbeitgebern, verwaltet wird. Entsprechend wurden die Kompetenzen des Verwaltungsrates festgelegt, der Bundesrat beschränkte sich auf die Rolle als Aufsichtsorgan.

      Skepsis in der Westschweiz

      In den Schlussabstimmungen des Stände- und Nationalrates vom 13. Juni 1911 wurde das Gesetz mit 41 zu 0 und mit 136 zu 12 Stimmen angenommen. Der überwiegende Teil der Nein-Stimmen kam von Nationalräten aus der Westschweiz. Dort wurde auch die abgespeckte Version des Kranken- und Unfallversicherungsgesetzes mit erheblicher Skepsis aufgenommen – wiederum als Reflex gegen die Zentralisierung und die Schwächung des Föderalismus.

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      So wurde in der Westschweiz gegen die Suva gekämpft.

      Wiederum dauerte es nicht lange, bis die Unterschriften für das Referendum gesammelt waren. Bereits am 26. September 1911 beglaubigte der Bundesrat insgesamt 75 930 gültige Unterschriften (nötig waren schon damals 50 000). Er setzte die Abstimmung auf den 4. Februar 1912 an.

      Die hauptsächliche Opposition ging von den privaten Versicherungsgesellschaften aus. Sie fürchteten, durch die «Monopolanstalt» aus dem Unfallversicherungsgeschäft gedrängt zu werden. Eine prominente Stimme in der Deutschschweiz war die Zürcher Handelskammer, die forderte, dass auch private Versicherungsanstalten zugelassen würden. 1912 gab es in der Schweiz etwas mehr als hundert Privatversicherungsgesellschaften, fast 70 Prozent der Unfall- und Schadenversicherer stammten aus dem Ausland.

      Privatversicherungen im Zwiespalt

      In einer besonderen Situation befanden sich die grossen Schweizer Versicherungsgesellschaften – die «Winterthur»- und die «Zürich»-Versicherung. Sie gehörten zu den führenden Unfallversicherern in der Schweiz.

      Sowohl die «Winterthur»- als auch die «Zürich»-Versicherung – obwohl Hauptbetroffene – hatten den Gesetzgebungsprozess unterstützt, im Abstimmungskampf gingen sie aber getrennte Wege. Während sich die «Winterthur» weitgehend zurückhielt, engagierte sich die «Zürich» in der Referendumskampagne.

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      Faltblatt, das kurz vor der Abstimmung in Umlauf kam

      Fritz August Meyer, Generaldirektor der «Zürich»-Versicherung, kämpfte an vorderster Front gegen das neue Gesetz. Er und seine Mitarbeiter koordinierten zunächst die Unterschriftensammlung für das Referendum, dann suchten sie nach Mitstreitern und brachten die Abstimmungspropaganda in Umlauf.

      Dabei waren die beiden Grossen der Unfallversicherungsbranche seit der Verfassungsabstimmung von 1890 auf die neue Situation gefasst. Sie nutzten die Zeit, um ihre Geschäftsmodelle zu erweitern und beispielsweise das Sachversicherungsgeschäft mit Einbruchdiebstahl- und Kautionsversicherungen zu begründen oder das Auslandgeschäft auf- und auszubauen. 1913 erzielten die schweizerischen Versicherungsgesellschaften bereits 63 Prozent ihrer Prämieneinnahmen im Ausland.

      Insgesamt – aber erst im Nachhinein betrachtet – wirkte sich die Einführung der obligatorischen Unfallversicherung positiv auf die privaten Unfallversicherungsgesellschaften aus. Sich zu versichern, wurde zu einem Gedanken, der auch Unternehmen erfasste, die nicht der Suva unterstellt waren. 1919, nach der Eröffnung der öffentlich-rechtlichen Versicherungsanstalt, hatte die «Winterthur»-Versicherung zwar rund drei Viertel ihrer Prämieneinnahmen aus dem Unfallversicherungsgeschäft verloren, bereits 1923 übertraf sie aber die Marke von 1917.

      Abstimmungskampf mit fremdenfeindlichen Tönen

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      Den Italienern schiesst man das Geld nach (links). Die Schweizer Bauern (rechts) haben das Nachsehen.

      In den Monaten vor dem 4. Februar 1912 entbrannte ein heftiger Abstimmungskampf. Und diesmal gab es auch fremdenfeindliche Töne. Weil das Kleingewerbe und die Landwirtschaft nicht unter das Obligatorium fielen, würden

      «ganze Klassen unserer einheimischen Bevölkerung leer ausgehen»

      während die «privilegierten ausländischen Arbeiter» profitierten.

      Gegner und Befürworter kreuzten die Klingen an Hunderten von Veranstaltungen in der ganzen Schweiz. Aufrufe und Leitartikel füllten die Zeitungsspalten.

      Auf der Seite der Befürworter standen – anders als zwölf Jahre zuvor – die privaten Krankenkassen. Sie profitierten von Subventionen und verurteilten die Kampagne der privaten Unfallversicherungsgesellschaften als «Geldsackpolitik» und «Egoismus». Die erst 1909 gegründete «Krankenkassen-Zeitung» kündigte sogar eine «Agitationskommission» an, die «Aufrufe zur Massenverteilung» verfassen werde.

      Fokus auf Eisenbahnern und Bauern

      Gleichzeitig wuchs der Widerstand unter den Eisenbahnern und den Postbeamten.

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      Pöstler vor der Fraumünsterpost, um 1900

      Sie hatten eine Verschlechterung der Versicherungsleistungen zu gewärtigen. Als die Personalverbände mit der Nein-Parole drohten, schaltete sich der Bundesrat ein. Robert Comtesse, Vorsteher des Eisenbahn- und Postdepartements, sicherte den Verbänden zu, dass es keine Abstriche geben werde. In einem Geheimabkommen mit den Eisenbahnern und Postbeamten teilte er die Versicherten in eine Zweiklassengesellschaft. Die sogenannte «Promesse Comtesse» sorgte noch während Jahrzehnten für erhebliche Irritationen.

      Kurz vor der Abstimmung traten die Eisenbahner für die Vorlage ein. Sie bekannten,

      ««dass das Gesetz dem Eisenbahner nur scheinbare Verluste, bestimmt aber grosse Vorteile bringt», vor allem mit Blick auf die Nichtbetriebsunfälle und auf die Zuschüsse, die in die «Pensions- und Hülfskasse» der SBB geleistet würden.»

      Diese wies damals ein Defizit von 25 Millionen Franken auf. Zumindest andeutungsweise bestätigten die Eisenbahner auch die «Promesse Comtesse». Es werde keine Verschlechterungen geben, schrieben sie, «das wurde uns von zuständiger Seite wiederholt und bestimmt zugesichert».

      Auch die Bauern, die Zielscheibe der gegnerischen Kampagne waren, kämpften für das Kranken- und Unfallversicherungsgesetz. «Mit einem letzten Appell gelangen wir an Euch!», schrieb beispielsweise der Bauernverein des Kantons Luzern in einer Presseeinsendung.

      «Erfüllet Eure Pflicht als Bauern und Eidgenossen! Folget Euern Führern, die es gut mit dem Bauernstande meinen. Stimmt geschlossen für die Gesetzesvorlage.»

      «Eine schwere Geburt»

      Als das Abstimmungsresultat am 4. Februar 1912 vorlag, atmeten die Bundespolitiker auf. Es war kein Zittersieg, aber «eine schwere Geburt», wie es die Satirezeitschrift der Schweizer Arbeiterschaft, «Der Neue Postillon», überzeichnete. Mit dem knappen Resultat von 287 000 Ja- zu 241 000 Nein-Stimmen wurde die rechtliche Grundlage für die Schweizerische Versicherungsanstalt in Luzern geschaffen. Die beiden Appenzell und die Westschweiz verwarfen die Vorlage deutlich, Freiburg und der Kanton Thurgau knapp. Den grössten Ja-Stimmen-Anteil wies der Kanton Solothurn mit 84,7 Prozent aus, Luzern stimmte mit 79,4 Prozent zu.

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      Das «geköderte» Luzern feiert

      In der Stadt Luzern wurde denn auch gefeiert. 300 Personen fanden sich im Sal des «Löwengarten» ein, um «die Schaffung des grossen sozialen Werkes« zu würdigen. In dem einmütigen Resultat auch auf der Landschaft sei

      «der grosse Zug warmen sozialen Empfindens fühlbar,»

      erklärte Heinrich Walther, Regierungsrat des Kantons Luzern und ein führender Kopf der Katholisch-Konservativen in der Schweiz.

      Anders beurteilte es die «Gazette de Lausanne» in ihrem Abstimmungskommentar. Die grosse Zustimmung sei auf den «Köder» zurückzuführen, mit dem Luzern gelockt worden sei – mit dem Sitz der Versicherungsanstalt. Dies wiederum liess das freisinnige «Luzerner Tagblatt» nicht gelten. Luzern sei schon 1900 als Sitz vorgesehen gewesen, damals habe der Kanton aber mit grosser Mehrheit gegen das Gesetz gestimmt. Wenn jetzt die Stimmung umgeschlagen habe, sei dies «der veränderten Haltung unserer Bauersame» zu verdanken.

      Die föderalistischen Empfindlichkeiten spielten eine gewichtige Rolle in der Konstituierung der Versicherungsanstalt. Sowohl die Besetzung des Verwaltungsrates und der Direktion als auch der Aufbau eines feinmaschigen Agenturennetzes waren Ausdruck des Bestrebens, der Zentralisierung in Luzern entgegenzuwirken.

      Bildquellen

      Titelbild: Hanspeter Britt: Giesser und Totengräber. Zürich, 2016. NZZ Libro, S. 108. (Bild aus: Boesch, Hans & Karl Schib: Beiträge zur Geschichte der schweizerischen Eisengiessereien, 1960)

      Volksküche des Kriegsfürsorgeamtes Drei Rosen in Basel während des ersten Weltkrieges: Staatsarchiv Basel-Stadt, BILD 13, 606

      Werkhalle der Firma Sulzer um 1900: Schweizerisches Sozialarchiv: Sozarch_F_5032-Fb-0001

      Arbeiterinnen an Maschinen und an Fliessbändern in der Nahrungsmittelindustrie, nach 1900: Schweizerisches Sozialarchiv: Sozarch_F_5030-Fb-0029

      Bismarck-Karikatur aus der Zeitschrift «Der wahre Jakob», 1884: Universitätsbibliothek Heidelberg (http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/wj1884/0012)

      Die deutsche Sozialversicherung, Plakat 1914: © Deutsches Historisches Museum Berlin Inv.-Nr.: P 57/305

      Don Quichote kämpft gegen die Sozialversicherung: Nebelspalter, 13.01.1900, (https://www.e-periodica.ch/digbib/view?pid=neb-001:1900:26#1498 )

      Forrer: Schweizerische Nationalbibliothek, in: 75 Jahre Suva «Das Menschenmögliche», 1993, S. 11

      Usteri: Schweizerische Nationalbibliothek: NB_GS-FOTO-PORT-USTERI_PAUL-1

      So wurde in der Westschweiz gegen die Suva gekämpft: Zurich-Archiv: ZAZ 1436

      Faltblatt, das kurz vor der Abstimmung in Umlauf kam: Zurich-Archiv: ZAZ 1435-4

      Den Italienern schiesst man das Geld nach (links). Die Schweizer Bauern (rechts) haben das Nachsehen: Zurich-Archiv: ZAZ 1436-2

      Pöstler vor der Fraumünsterpost, um 1900: Schweizerisches Sozialarchiv: Sozarch_F_5044-Fx-053

      Kindbetti: Der Neue Postillon, 17.02.1912 (Schweizerisches Sozialarchiv)