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Armeesanitätsanstalt

Unerwartet wird die Fluhmatt zum Militärspital

Ende November 1915 verfügte die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt in Luzern über ein prachtvolles Hauptgebäude, aber noch kaum über Personal. Wegen des ersten Weltkrieges war an eine Aufnahme des Versicherungsbetriebs nicht zu denken. Gerade wegen des Krieges kam das Gebäude aber zu einer anderen, unerwarteten Nutzung.

Inhalt

      29 Mitarbeiter der Direktion, des Sekretariats, der ärztlichen Abteilung sowie der Abteilungen für Statistik und Prämientarif, für Klassifikation und für Unfallverhütung zogen am 3. Dezember 1915 in das neue Hauptgebäude auf der Fluhmatt in Luzern ein. Das hiess: Ein wesentlicher Teil des Neubaus stand leer.

      Grund dafür war der wirtschaftliche Stillstand nach dem Ausbruch des ersten Weltkrieges. Neben der materiellen Not verursachte der Krieg aber auch menschliches Leid, auch in der Schweiz, und deshalb fand das Fluhmatt-Gebäude schon bald einen neuen Zweck. Es diente als Militärspital.

      Dabei ist zwischen zwei Phasen zu unterscheiden: Zuerst ‒ Anfang 1916 ‒ wurde die Fluhmatt als «Etappensanitätsanstalt» für Schweizer Soldaten eingerichtet, allerdings noch ohne Patienten. Dann ‒ von Juli 1916 bis Oktober 1917 ‒ wurde das Etappenspital zu einer «Armeesanitätsanstalt» für Kriegsgefangene aus Deutschland, Grossbritannien, Frankreich und Belgien umgewandelt. Gleichzeitig wurden nun bis zu 200 Kriegsverletzte versorgt.

      Anfrage noch in der Bauzeit

      Einen ersten Anlauf, das Gebäude als Armeespital zu verwenden, gab es bereits im September 1915. Damals, als die Fluhmatt noch eine Baustelle war, wandte sich der Stadtrat von Luzern an die Suva: Er unterstützte die Schweizer Armee in ihren Plänen, die überlastete Etappensanitätsanstalt von Solothurn nach Luzern zu verlegen. Etappensanitätsanstalten waren Militärspitäler für Soldaten der Schweizer Armee, die während des Dienstes erkrankten oder verunfallten. Häufig wurden dafür Schulhäuser oder Fabrikgebäude umfunktioniert.

      Anfang November 1915 wurde die Anfrage konkret. Allerdings ging es nun nicht mehr um das Etappenspital in Solothurn, sondern um eine Filiale der Etappensanitätsanstalt Olten, die in einer alten Fabrik in Zofingen (Rüegger + Cie.) untergebracht war.

      «Dürfte die Geschäfte merklich heben»

      Alfred Tzaut, Direktor der Suva, unterstützte das Anliegen

      «mit Rücksicht auf die Natur unserer Anstalt als solcher des Bundes, mit Rücksicht auf die Tatsache, dass wir bis zur Eröffnung des Betriebes nur einen Teil des Gebäudes benützen werden und in Ansehung der Dienlichkeit des Gebäudes für den gewünschten Zweck,»

      wie er in seinem Antrag an den Verwaltungsrat schrieb.

      In den Verhandlungen des Verwaltungsrates wies er am 1. Dezember 1915 auf den Nutzen für die Stadt Luzern hin: «Für die Stadt Luzern ist diese Verlegung von grosser Bedeutung. Der Handel der Stadt ist gegenwärtig sehr beschränkt. Die Anwesenheit von 400 Patienten und der Personen, die nach Luzern kommen werden, um sie zu besuchen, dürften die Geschäfte der Kaufleute merklich heben.»

      Raum für 300 bis 400 Patienten

      Auf den 1. Januar 1916 wurden rund zwei Drittel der Fluhmatt-Räumlichkeiten an die Stadt Luzern abgetreten. Diese handelte in Vertretung der Schweizer Armee. Die einzige Bedingung des Verwaltungsrates betraf den Ausschluss von Patienten mit ansteckenden Krankheiten. Die entsprechende Vereinbarung mit der Stadt Luzern datiert vom 29. Januar 1916. Zu diesem Zeitpunkt waren die Räume bereits mit Spitalmaterial belegt, so Paul Usteri, Präsident des Suva-Verwaltungsrates, an einer Sitzung vom 25. Januar 1916.

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      In der Vereinbarung mit der Stadt Luzern sind die Räume bezeichnet, die sich im Längstrakt des Hauptgebäudes befanden ‒ im Keller (Zeichnungssaal, Archiv und Maschinenraum), im Erdgeschoss sowie im ersten und zweiten Stock, völlig getrennt von der Verwaltung der Suva.

      Abgetreten wurden auch Zimmer in der alten Villa westlich des Verwaltungsgebäudes ‒ dort, wo heute der Erweiterungsbau von 1955 steht. Damit wurde Raum für die Versorgung von 300 bis 400 Patienten geschaffen.

      Ende Januar 1916 berichtete Usteri von den Plänen der Armee, die Verlegung der Sanitätsetappe «für das Frühjahr in Aussicht» zu nehmen. Dazu kam es aber offenbar nicht, denn am 28. April 1916 schrieb der Armeearzt an die Suva: «Eine Belegung … mit Kranken unserer eigenen Armee war bis jetzt nicht notwendig und wird es voraussichtlich in absehbarer Zeit auch nicht sein.»

      Armeesanitätsanstalt für Kriegsgefangene

      Tatsächlich änderten die Pläne des Armeearztes: Noch im April 1916 legte er einen Antrag vor, in dem er um die Einrichtung einer «Armeesanitätsanstalt» für Kriegsverletzte aus den umliegenden Nationen bat. Aus humanitären Gründen und um ihre Neutralitätspolitik zu unterstreichen, nahm die Schweiz damals rund 70 000 Kriegsgefangene auf ‒ sowohl der Entente (Frankreich, Grossbritannien und Irland, Russland und Verbündete wie die USA) als auch der Achsenmächte (Deutschland, Österreich-Ungarn, Osmanisches Reich, Bulgarien).

      Es handelte sich dabei um schwerverletzte Kriegsgefangene, die bereits mindestens einmal operiert worden waren, die aber eine chirurgische oder orthopädische Nachbehandlung benötigten.

      Der für die Unterbringung der Internierten zuständige Armeearzt bat die Suva darum, ihm die Räume in der Fluhmatt «zu den gleichen Bedingungen zu überlassen, zu denen sie dem Etappenkommando zur Verfügung gestellt worden waren».

      Kontroverse um Mietzins…

      Zunächst beabsichtigte die Suva, einen Mietzins zu verrechnen, da es dem Bundesrat möglich sein sollte, die Unterbringungskosten von den ausländischen Kriegsparteien zurückzufordern, doch nach einer Intervention des Schweizerischen Politischen Departements verzichtete der Verwaltungsrat darauf. Er sprach sich am 10. Mai 1916 für eine unentgeltliche Abtretung aus, da sie «von Interesse für die Schweiz» sei, als Gegenleistung regte er die spätere «Überlassung der orthopädischen Apparate» an, ohne dies als Bedingung zu formulieren. In einem Schreiben vom 16. Mai 1916 würdigte der Vorsteher des Schweizerischen Politischen Departements, Bundesrat Arthur Hoffmann, den Zinsverzicht: «Wir verdanken diesen hochherzigen und patriotischen Beschluss bestens.»

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      Schon am 20. Mai 1916 wurde die Vereinbarung mit dem Armeearzt unterzeichnet. Weiterhin benötigte die Suva nur einen beschränkten Raum (Ende 1916 arbeiteten 56 Angestellte in Luzern, Ende 1917 waren es 85). Deshalb trat man zwei Drittel der Gebäudeflächen an die Armeesanitätsanstalt ab. Nur die alte Villa wollte der Armeearzt nicht.

      … und Umbaukosten

      Um das «alte Haus», wie es in den Suva-Unterlagen heisst, entbrannte darauf ein kurzer Streit mit der Stadt Luzern. Für die Arbeiten, die mit Blick auf das Etappenspital an der Villa ausgeführt worden waren, forderte der Stadtrat mit Schreiben vom 27. Juli 1916, dass ihm die Ausgaben von 1320 Franken rückvergütet würden. Für die Suva sei ein Mehrwert entstanden, begründete er seine Forderung.

      Bereits am 2. August 1916 antwortete die Suva trocken: Man habe die Arbeiten nicht in Auftrag gegeben, zudem hätten sie für die Anstalt «nur einen bedingten Wert, da noch nicht feststeht, was mit dem alten Haus geschehen soll und ob es nicht abgetragen werden muss». Allgemein waren die Kommunikationswege zwischen der Stadt Luzern und der Versicherungsanstalt kurz: Josef Albisser, Gründer der SP Luzern, war in dieser Zeit sowohl Stadtrat von Luzern (1915 bis 1917) als auch Suva-Verwaltungsrat (1912 bis 1917.

      Wände mit Holz und Karton verkleidet

      Anfang Juli trafen die ersten Patienten in der Armeesanitätsanstalt ein, die erste Operation wurde am 4. Juli 1916 durchgeführt. Insgesamt verfügte die Armeesanitätsanstalt zunächst über 190 Betten und 5 Operationstische. 1917 wurde die Kapazität auf 200 Betten erhöht. Türen und Wände wurden mit Holz und Karton verkleidet, in den Schlafsälen und Gängen brachte man zudem Schutzleisten an, damit die Betten nicht die Wände des neu gebauten Verwaltungsgebäudes der Suva beschädigten.

      Die einzelnen Schlafsäle wurden nach Nationalität der Internierten aufgeteilt. 1916 waren 84 Betten für Deutsche vorgesehen, 78 für Franzosen und Belgier, 22 für Engländer und 6 Betten für Offiziere, unabhängig von der Nationalität. Überwacht wurden die Kriegsgefangenen nicht rund um die Uhr, sie mussten sich an einen Ehrenkodex halten.

      Die chirurgischen Eingriffe betrafen vor allem Brüche, die nicht verheilten oder infiziert waren, auch Pseudarthrosen (Falschgelenk als Folge eines nicht verheilten Knochenbruchs), Gelenkversteifungen (Ankylosen) und die rekonstruktive Behandlung von Schädel- und Gesichtsverletzungen. Infektionen standen zuoberst auf der Liste. Daneben gab es eine neurologische Abteilung und einen Rehabilitationsbereich. In der Fluhmatt wurden auch Prothesen angefertigt ‒ von den Internierten selber gemäss den spezifischen Bedürfnissen der Patienten.

      Armeesanitätsanstalt

      Deutscher Krankensaal mit integriertem Speisesaal

      Schwestern aus dem Kloster Ingenbohl

      In der Armeesanitätsanstalt arbeiteten zunächst 11 Ärzte, 3 Assistenten und ein Personalstab von 76 Personen, darunter 14 katholische Schwestern aus dem Kloster Ingenbohl. 1917 kamen 7 Assistenten sowie 25 Angestellte in den Büros, in der Küche und als Zimmerordonnanzen dazu. Internierte waren unter anderem auch als Masseure tätig.

      In der zweiten Hälfte des Jahres 1916 wurden insgesamt 487 Deutsche, 142 Engländer, 20 Belgier und 433 Franzosen behandelt. Durchschnittlich hielten sich 81 deutsche, 23 englische, 3 belgische und 72 französische Internierte in der Fluhmatt auf. Bis zum Jahresende wurden 457 Operationen durchgeführt, von Januar bis September 1917 waren es noch einmal 567 Operationen.

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      Eine Schwester aus dem Kloster Ingebohl betreut die Patienten nach schweren Operationen.

      Hans Brun, Pionier der Knochenchirurgie

      Hans Brun (1874 bis 1946) war der Leiter der Armeesanitätsanstalt Luzern und ein Pionier der Knochenchirurgie. Der gebürtige Luzerner studierte am Universitätsspital Zürich, wo er sich 1913 habilitierte. Er machte sich einen Namen mit neuen Techniken der osteoplastischen (knochenbildenden) Versorgung von fehlverheilten Frakturen und von Pseudarthrosen.

      Den Grundstein für seinen Erfolg auf diesem Gebiet legte er als leitender Kriegschirurg im türkisch-bulgarischen Balkankrieg von 1912/13. Dort versorgte er 2341 Kriegsverletzungen. Im ersten Weltkrieg übernahm er zunächst die Leitung des deutschen Festungslazaretts in Strassburg. Dann, im Mai 1916, kam er nach Luzern, wo er die Armeesanitätsanstalt leitete. Er dokumentierte die Knochen-Weichteildefekte, Pseudarthrosen und Fehlstellungen, die zu einem wichtigen Teil seiner späteren Tätigkeit und Pionierarbeit wurden.

      Armeesanitätsanstalt

      Anstaltsleiter Hans Brun (vorderste Reihe, Dritter von rechts) mit seinem Ärzteteam und Oberst-Korpsarzt Robert Hauser (in Uniform).

      «Panorama von fast märchenhafter Schönheit»

      Von den Internierten wurde die Lage der Armeesanitätsanstalt geschätzt, mit den «Promenaden und Gartenanlagen» und einem «Panorama von fast märchenhafter Schönheit». International wurde die Arbeit in Luzern anerkannt. 1916 kam der «Held von Verdun», Philipp Pétain, der nun Marschall von Frankreich war (und später Oberbefehlshaber der französischen Armee wurde), nach Luzern, um die französischen Internierten zu besuchen. 1917 taten es ihm Generalfeldmarschall Kronprinz Rupprecht von Bayern und Kavalleriegeneral Prinz Alfons von Bayern für die deutschen Kriegsverletzten gleich.

      Für die diensttuenden Soldaten war die Arbeit nicht immer einfach. In einem Briefwechsel an seine Verlobte berichtet Louis Gut aus dem luzernischen Kaltbach am 9. Dezember 1916: «Die Türme der Hofkirche stehen wie zwei wachende Brüder da. Welcher Kontrast, dort unten eine ganze Stadt in ihrem süssen Schlummerfrieden und hier vor mir dieses Häufchen Kriegselend. Ein kräftiger Mensch, dem ein Schuss in den Kopf allen Genuss am Leben, alle Hoffnung auf Glück vernichtet hat. Still ist es hier, das ganze Haus schläft. Nur stossweise atmet und stöhnt der Franzose. Keine Minute kann er still liegen. Immer wieder deckt er sich ab und will aufstehen. Vier Glockenschläge verhallen in der Nacht. Der Kranke wälzt sich und stöhnt mir sein ‹Ola, ola, ola› wie Blei ins Ohr.»

      Armeesanitätsanstalt

      Hans Brun im Gespräch mit Generalfeldmarschall Kronprinz Rupprecht von Bayern vor der Armeesanitätsanstalt.

      Verlegung auf Dreilinden

      1917 wurde die Armeesanitätsanstalt in Luzern geschlossen ‒ aus drei Gründen: Erstens gingen die Patientenzahlen schon nach wenigen Monaten deutlich zurück. Zweitens beklagte sich der Bund über die hohen Kosten. Er bezahlte keine Miete, übernahm aber die Kosten für Wasser, Strom und Heizung. Und drittens drängte die Suva auf die offizielle Betriebseröffnung. Diese war ihr vom Bundesrat auf den 1. Januar 1918 zugesichert worden.

      So wurde die Armeesanitätsanstalt ordnungsgemäss auf den 1. Oktober 1917 geschlossen. Für die deutschen Kriegsgefangenen wurde die Pension Terrasse an der Schweizerhausstrasse 12 in das «Deutsche Interniertenspital Luzern» umgewandelt. Die verletzten Soldaten der Entente-Mächte wurden bis Kriegsende in der Sanitätsanstalt in Fribourg behandelt.

      In der mondänen, 1907 an bester Aussichtslage erbauten Pension Terrasse gab es Platz für 60 bis 80 Internierte. Aufgenommen wurde der Betrieb am 15. November 1917, das Krankenhaus war ein Teil der Internierungsregion Luzern. Wie die meisten Hotels in Luzern erholte sich auch das «Terrasse» nicht von den Folgen des ersten Weltkrieges. 1931 ging es an die Ortsbürgergemeinde, die es zunächst zu einem Frauenheim machte, dann zu einem Alterswohn- und Pflegeheim. 2016 wich es einem Neubau des Betagtenzentrums Dreilinden, dem Haus Rigi.

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      Pension Terrasse ‒ Postkarte

      Finanziell gab es für den Bund noch ein paar Nachwehen. Ende 1918 bezahlte er 26 371.95 Franken für die Renovationsarbeiten im Suva-Gebäude (die Desinfektion durch das Polizeikommissariat der Stadt Luzern hatte nur 350 Franken gekostet). Und mit den Eigentümern der Pension Terrasse lag er noch während Jahren in Streit. Zwar wurde das Interniertenspital im Februar 1919 auf Befehl des Armeearztes aufgehoben, doch beharrten die Eigentümer auf einer Sonderentschädigung. 1924 wurde der Streit mit einer Zahlung von 10 000 Franken beigelegt. Es war die letzte Entschädigung des Bundes für die Versorgung von Kriegsinternierten in der Schweiz.

      Titelbild: Der deutsche Saal der Anstalt. Frakturen wurden mit Zugvorrichtungen behandelt.