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Mattmark – die Katastrophe in den Alpen

Es war die schwerste Naturkatastrophe in der jüngeren Geschichte der Schweiz – und das grösste Schadenereignis in der Geschichte der Suva. 88 Menschen, darunter 56 Gastarbeiter aus Italien, starben, als eine Eislawine am 30. August 1965 auf die Baracken der Mattmark-Baustelle zuhinterst im Walliser Saastal niederging. Schon bald stellte sich die Frage: Warum standen die Baracken in der Gefahrenzone? 17 Personen wurden der fahrlässigen Tötung angeklagt – darunter auch zwei Suva-Mitarbeiter. Sie wurden von den Gerichten freigesprochen.

Inhalt

      «Es war, als ob der Eisberg vom Himmel fiel.» Er habe nur überlebt, so ein Arbeiter, weil ihn die Druckwelle der Eislawine zu Boden geschleudert habe. Ein anderer Arbeiter berichtete von einem «fürchterlichen Windstoss», dann seien die Kameraden «wie Schmetterlinge davongeflattert». Es habe ein grosses Donnern gegeben, «und dann war Schluss». Menschen, Lastwagen und Planierraupen seien durch die Luft geflogen.

      Was sich an diesem 30. August 1965 ereignete, mutete wie der Weltuntergang an. So schilderte es ein Überlebender. Kurz vor dem Schichtende, um 17.20 Uhr, geschah es: Ein gewaltiges Stück des Allalingletschers brach von der Gletscherzunge ab, eine verheerende Lawine aus Eis und Geröll – rund zwei Millionen Kubikmeter – stürzte auf die Baracken, Werkstätten und die Kantine der Mattmark-Baustelle. 88 Menschen starben, 11 wurden verletzt. Und trotz der unfassbaren Tragweite sprach man auch von Glück: Hätte sich die Katastrophe nur eine halbe Stunde später – nach dem Schichtende – ereignet, hätten sich bis zu 700 Arbeiter in den Mattmark-Baracken aufgehalten.

      Die traurige Bilanz hielt die Suva in ihren Aufzeichnungen fest: 88 Todesopfer, 86 Männer und 2 Frauen – davon 56 Italiener, 23 Schweizer, 4 Spanier, 2 Deutsche, 2 Österreicher und 1 Staatenloser. Und weiter die versicherungsrelevanten Angaben: «37 waren ledig, 51 verheiratet, davon 41 mit 79 rentenberechtigten Kindern; dazu kommen noch 5 Witwen und 1 Braut in Erwartung.»

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      Luftaufnahme Mattmark vor dem Gletscherabbruch, 15. Juni 1965, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Stiftung Luftbild Schweiz / Fotograf: Swissair Photo AG / LBS_P1-652586 / CC BY-SA 4.0
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      Situation nach dem Gletscherabbruch, © Archiv der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie

      Suva handelt «demonstrativ rasch»

      Als sich das Unglück ereignete, befand sich die Suva-Führung auf einer Studienreise in München. Dort besichtigte sie Eingliederungsstätten. Spontan erklärte der Direktor der Suva, Fritz Lang, noch vor den deutschen Gastgebern,

      ««er werde dafür besorgt sein, dass diese Fälle demonstrativ rasch erledigt werden».»

      Karl Obrecht, Verwaltungsratspräsident der Suva, hielt später fest: «Dadurch hat die Anstalt im In- und Ausland in hervorragender Weise für ihr Ansehen geworben. Es sei nur daran erinnert, dass im Ausland gelegentlich jahrelang auf eine Rente gewartet werden muss und nicht einmal ein Vorschuss erhältlich ist.»

      Tatsächlich wurden die Rentenentscheide, wie sie damals hiessen, ohne Verzögerung erlassen. Die ersten Hinterbliebenenrenten wurden bereits am 9. September 1965 gesprochen, bis am 4. Oktober 1965 waren nur noch drei Fälle pendent. Grund für die rasche Erledigung war die «gute Zusammenarbeit mit den Betrieben und dem italienischen Vizekonsul», so die Suva. Einerseits mussten die Jahresverdienste der verunglückten Arbeiter ermittelt und die amtlichen Zivilstandsausweise aus den Heimatländern beschafft werden.

      «Sehr viele Verunglückte standen auf dem versicherten Maximum oder darüber», orientierte die Direktion der Suva bereits am 6. Oktober 1965. Generell seien die Löhne auf der Mattmark-Baustelle hoch gewesen. Zusammen mit den AHV-Leistungen kämen viele Hinterbliebene auf Renten, die 90 bis 100 Prozent des vormaligen Verdienstes ausmachten.

      Kritik an Glückskette-Sammelaktion

      Für die Suva war dies ein wichtiger Punkt, denn in den ausländischen Medien wurde offenbar die Kritik verbreitet, das schweizerische Sozialversicherungssystem sei mangelhaft. So sei der Schweizerische Gewerkschaftsbund «von ausländischen Bruderorganisationen angefragt worden, ob Sammlungen für die Opfer von Mattmark notwendig seien, weil die Sozialversicherung in der Schweiz nicht genüge».

      In der Verwaltungsausschusssitzung vom 6. Oktober 1965 beschwerte sich denn auch Fritz Lang, Direktor der Suva: Kritik an Glückskette-Sammelaktion
      Für die Suva war dies ein wichtiger Punkt, denn in den ausländischen Medien wurde offenbar die Kritik verbreitet, das schweizerische Sozialversicherungssystem sei mangelhaft. So sei der Schweizerische Gewerkschaftsbund «von ausländischen Bruderorganisationen angefragt worden, ob Sammlungen für die Opfer von Mattmark notwendig seien, weil die Sozialversicherung in der Schweiz nicht genüge».

      In der Verwaltungsausschusssitzung vom 6. Oktober 1965 beschwerte sich denn auch Fritz Lang, Direktor der Suva:

      ««Ganz allgemein ist zu sagen, dass die unangenehme Stimmung in der Öffentlichkeit durch die Aktion der Glückskette ausgelöst wurde, die zum Beispiel – ohne die Versicherung zu fragen – die Mär verbreitete, es würden Versicherungsleistungen erst nach Bergung der Opfer ausgerichtet.»»

      Man habe gegen diese Aktion protestiert, so Lang. Sie diene wohl «der Reklame für gewisse Leute», die Glückskette solle «sich besser auf Fälle konzentrieren, wo überhaupt keine oder ungenügende Versicherungen da sind; aber die sind weniger erfolgversprechend».

      In den ausländischen Medien beruhigte sich die Situation rasch. Für ihre speditive Hilfe und die Wahrnehmung ihrer sozialen Ausgabe sei die Suva «auf nationaler und internationaler Ebene ausdrücklich anerkannt worden», sagte Ettore Tenchio, Suva-Verwaltungsrat aus dem Misox, der als Rechtsanwalt auch Gastarbeiter aus Italien vertrat, in der Verwaltungsratssitzung vom 7. Juli 1966. Und er fügte an: «Sogar die italienische Presse – mit Ausnahme der kommunistischen – hat dies getan.»

      Finanzierungssystem bewährt sich

      Aufgrund der hohen Löhne der Mattmark-Arbeiter waren die finanziellen Folgen des Unglücks für die Suva bedeutend. Sie rechnete mit einer kapitalisierten Rentensumme von 8 Millionen Franken. Umgerechnet auf die Verhältnisse von 2018 entspricht dies fast 80 Millionen Franken. Karl Obrecht, Präsident des Verwaltungsrates, konnte aber schon bald nach dem Unglück entwarnen: Man vermöge «diese grossen Belastungen ohne Erschütterung zu tragen», sagte er am 28. Oktober 1965. Man habe festgestellt, dass sich das Finanzierungssystem und die Prämienpolitik bewährten und in der Lage seien, «auch grössere Katastrophenfälle aufzufangen». Auf die Schaffung eines Katastrophenfonds verzichtete die Suva.

      Sie verzichtete nach dem Mattmark-Unglück auch auf Regressforderungen gegenüber der Bauherrin, der Elektro-Watt AG aus Zürich. Sie diskutierte zwar die Frage, nachdem man vernommen habe, so Gotthard Odermatt, Suva-Verwaltungsrat und Ständerat des Kantons Obwalden, «dass die Staumauer wegen möglicher Gletscherabbrüche nach Süden verlegt wurde». Fritz Lang, Direktor der Suva, widersprach aber. Nicht wegen eines möglichen Gletscherabbruches sei der Staudamm nach Süden verlegt worden, «sondern um eine Gefährdung des Dammes zu vermeiden, falls der Gletscher – wie auch schon – wieder bis ins Tal vordringen sollte».

      War das Unglück vorhersehbar?

      Genau diese Frage war in der Folge aber die grosse Streitfrage: Hatte man die Gefahr verkannt, hatte man Warnungen missachtet? In den Tagen vor der Katastrophe hatten sich immer wieder Eisblöcke von der Zunge des Allalingletschers gelöst. Arbeiter hatten die Abbrüche gemeldet – ohne Folgen. Schnell kam die Vermutung auf, die Elektro-Watt AG habe sich gegen Massnahmen gewehrt, weil die Zeit drängte. Um die Staumauer noch vor dem Wintereinbruch fertigzustellen, konnte man sich keine Arbeitsunterbrechung leisten. Dabei, so der Vorwurf, hätten auch die Behörden und die Suva weggeschaut.

      In einem Buch, das 2015 aus Anlass des 50. Jahrestages des Unglücks von Mattmark erschien («Mattmark, 30. August 1965. Die Katastrophe»), gingen Soziologen der Universität Genf auf diese Fragen ein. Sie kritisierten die Arbeitsbedingungen der italienischen Gastarbeiter, die sich «leicht an die schlimmsten Unterkunftsbedingungen anpassten» und die bereit waren, täglich 15 bis 16 Stunden zu arbeiten, auch bei Temperaturen bis minus 30 Grad. Zwar hätten die Arbeitsinspektoren von den prekären Verhältnissen gewusst,

      ««doch der Staat und seine Beamten waren in den Nachkriegsjahren meist zu schwach, um Vorschriften durchzusetzen»,»

      Bauwerk wichtiger als Arbeiter

      Dass sich die Baubaracken in der direkten Falllinie des Gletschers befanden, sei die Folge von Wirtschaftlichkeitsüberlegungen gewesen, so die Autoren: «Das ausschlaggebende Kriterium für die Wahl des Standorts war zweifelsohne wirtschaftlicher Art.» Vor allem habe die Elektro-Watt AG unter einem erheblichen Termindruck gestanden, sonst hätten Strafzahlungen gedroht.

      Weiter stellte die Studie fest, dass durchaus Notfallpläne bestanden, nicht aber für den Bereich der Unterkünfte. So habe die Elektro-Watt AG «bereits ab 1960 jährlich einen minutiös ausgearbeiteten Einsatzplan für den Lawinenfall» aufgestellt, dieser betraf aber nur die Zufahrtsstrasse. Selbst nach einem Lawinenniedergang, der 1964 bis zu den Baracken vordrang und zwei Bauarbeiter tötete, gab es keinen Evakuierungsplan.

      Anklage gegen 17 Verantwortliche

      Unmittelbar nach der Katastrophe von Mattmark wurden die Untersuchungsbehörden des Kantons Wallis aktiv. Sie leiteten ein Ermittlungsverfahren ein, das bis am 26. Februar 1971 dauerte. Für die Untersuchung hatten sie auch ein internationales Expertengremium eingesetzt. Dieses bestand aus drei Experten – Geologen und Glaziologen aus Deutschland, Frankreich und Österreich – und lieferte seinen Bericht im Januar 1968 ab.

      1971 beantragte der ausserordentliche Instruktionsrichter in seinem Überweisungsbeschluss, Anklage wegen fahrlässiger Tötung gegen 17 Personen zu erheben. Beschuldigt wurden die leitenden Funktionäre der Elektro-Watt AG, Ingenieure, Unternehmer, ein Glaziologieprofessor und Beamte des Sozialamtes des Kantons Wallis, daneben auch zwei Mitarbeiter der Suva – der Chef der Sektion Bau der Abteilung Unfallverhütung sowie ein Experte dieser Sektion.

      Für die Strafverfolgung der Suva-Mitarbeiter bedurfte es einer Ermächtigung durch das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement. Vorbereitet wurde das Gesuch durch die Bundesanwaltschaft, die Suva erhielt Gelegenheit zu einer Stellungnahme. Zwar beantragte die Direktion, «es sei die Ermächtigung zu verweigern», so Hans Peter Fischer, Mitglied der Direktion und zuständig für das Rechtswesen, am 3. Juni 1971 vor dem Verwaltungsausschuss, doch habe sie «durchblicken lassen, dass sie verstehen könnte, wenn das Justiz- und Polizeidepartement die Ermächtigung aus politischen Gründen erteilen würde». Ohnehin war die Vernehmlassung nur eine Formalie, denn die Bundesanwaltschaft habe «dem Chef unserer Rechtsabteilung am Telefon erklärt, die Direktion könne schreiben was sie wolle, die Ermächtigung werde auf alle Fälle erteilt».

      Freispruch auf der ganzen Linie

      Vor dem Kreisgericht Oberwallis, das vom 22. bis 25. Februar 1972 in Visp tagte, verlangte der Staatsanwalt, die Beschuldigten seien mit Bussen zwischen 1000 und 2000 Franken zu bestrafen. Für die beiden Suva-Mitarbeiter forderte er Geldstrafen von je 1000 Franken.

      Am 2. März 1972 sprachen die Richter aber sämtliche Angeklagten frei, was die Suva-Direktion nicht überraschte, wie sie am 16. März 1972 vor dem Verwaltungsausschuss bekräftigte: «Angesichts der rechtlichen Situation durfte ein Freispruch erwartet werden.»

      In seiner schriftlichen Begründung legte das Gericht auf 82 Seiten dar, weshalb es keine Fahrlässigkeit erkannte. Es seien höchstens kleinere Gletscherabbrüche zu erwarten gewesen und die Angeklagten seien von keiner Seite in irgendeiner Form vor dem drohenden Unheil gewarnt worden. Eine derartige Eislawine, wie sie am Unglückstage niederging, habe eine allzu entfernte Möglichkeit dargestellt, mit der vernünftigerweise im Leben nicht gerechnet werden müsse.

      Warnungen der Arbeiter in den Tagen vor dem Gletscherabbruch zog das Gericht nicht in seine Überlegungen ein. Und eine Eislawine, die 1949 bis an den Rand des Talbodens vordrang, werteten die Richter sogar als ein entlastendes Indiz. «Gerade die Bilder aus dem Jahre 1949 zeigten aber, dass auch grössere Abbrüche keine Gefahr für das Barackenlager bedeuteten», schrieben sie in ihrem Urteil.

      Politikum ersten Ranges

      Damit waren vor allem die Gewerkschaften nicht einverstanden. Nach der Urteilsverkündung erhob sich «eine Welle von Kritiken und Protesten», wie es Hans Peter Fischer am 16. März 1972 vor dem Suva-Verwaltungsausschuss ausdrückte, die Angelegenheit sei «zu einem Politikum ersten Ranges geworden». Migranten würden als «Arbeitnehmer zweiten Ranges angefasst», beklagten die Gewerkschaftsführer, in Genf brachten sie Hunderte von Gastarbeitern auf die Strasse, um «Gerechtigkeit für die Opfer von Mattmark» zu verlangen und um gegen die «Verachtung von Arbeiterleben» zu protestieren.

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      Demonstration in Genf gegen die Urteile im Mattmarkprozess, 18. März 1972, © Keystone/Photopress-Archiv/Foto Gassmann

      In den Medien herrschte wenig Verständnis für das Urteil. Dabei würden auch Fehlinformationen verbreitet, sagte Fischer. «In verschiedenen Zeitungen wurde eine Fotographie von drei Italienern publiziert, die den Verhandlungen in Visp beiwohnten», führte er als Beispiel an. In der Bildlegende sei behauptet worden, «einer der drei Männer sei bei der Katastrophe von Mattmark verletzt worden und habe bis heute noch keine Entschädigung von der SUVA erhalten». Dies sei falsch. Der abgebildete Mann sei zwar auf der Mattmark-Baustelle gewesen, dort aber nicht verletzt worden. Erst zwei Jahre später habe er über Magenbeschwerden geklagt und diese auf den Schock zurückgeführt, den er in Mattmark erlitten habe. «Die medizinischen Abklärungen ergaben keinen Kausalzusammenhang zwischen dem Ereignis vom 30. August 1965 und den Krankheitsbeschwerden», so Fischer.

      Eine ungeschickte Bemerkung des Anwalts

      Einen politischen Wirbel löste eine Bemerkung des Rechtsanwaltes der Suva aus. «Ohne entsprechende Instruktion … denkbar unklug und zur Verteidigung [der Mitarbeiter] überhaupt nicht nötig», so das Verwaltungsausschussprotokoll vom 16. März 1972, habe der Anwalt «von sich aus» vor den Folgen eines Schuldspruchs gewarnt. Sollten die Richter zu der Ansicht gelangen, die primäre Verantwortung für die Unfallverhütung liege nicht bei den Betriebsinhabern, sondern bei der Suva, so sei die Versicherungsanstalt «gezwungen, die Inspektorenzahl um ein Vielfaches zu erhöhen», sagte der Rechtsanwalt vor Gericht. Dies würde zu Mehrkosten und zu einem Anstieg der Prämien führen. Zudem müsste die Suva «zu ihrer eigenen Rückendeckung eine übertriebene Vorsicht an den Tag legen». Dadurch wäre es bei Betriebskontrollen nicht mehr möglich, den Grundsatz der Verhältnismässigkeit zu wahren.

      Auf diese Argumentation – einem Missverständnis, wie die Suva festhielt – reagierten die Gewerkschaften. Ezio Canonica, SP-Nationalrat und Präsident des Schweizerischen Bau- und Holzarbeiter-Verbandes (später Gewerkschaft Bau und Holz), reichte eine Interpellation ein. Sie trug den vielsagenden Titel: «Praxis der Suva in bezug auf in Kauf nehmen von Risiken für Gesundheit und Leben von Arbeitern».

      Für die Suva war es ein gravierender Vorwurf, den sie in aller Form zurückwies: Weder aus dem Untersuchungsverfahren noch aus dem Prozessverlauf hätten sich irgendwelche Anhaltspunkte ergeben, «die einen derart schwerwiegenden Vorwurf zu rechtfertigen vermöchten». In seiner Antwort auf die Interpellation bekräftigte der Bundesrat, dass es die Pflicht der Unternehmer sei, für die Sicherheit der Arbeiter zu sorgen, und dass sich eine aktive Mitverantwortung – und damit eine erweiterte Aufsichtspflicht – der Suva nicht aus der geltenden Gesetzgebung ergebe. Dies liesse sich nur mit einer Revision des Kranken- und Unfallversicherungsgesetzes realisieren. Allerdings fügte der Bundesrat an, er habe die Suva «ersucht, schon jetzt bei der Anordnung von Sicherheitsvorkehren in Berggebieten auch der Möglichkeit des Eintretens von Naturkatastrophen (Lawinen, Bergstürze) ihre ganz besondere Aufmerksamkeit zu schenken.»

      Freispruch auch in zweiter Instanz

      Angesichts der öffentlichen Reaktionen nach dem erstinstanzlichen Urteil war mit einem Weiterzug durch die Staatsanwaltschaft an das Kantonsgericht in Sitten zu rechnen. Dabei hoffte die Suva, «dass sich die zweite Instanz nicht von politischen Überlegungen leiten oder sich gar unter Druck setzen lässt, sondern dass auch sie im Interesse des Ansehens unserer Justiz auf dem Boden der Sachlichkeit stehen bleibt».

      Auch die zivilen Kläger zogen das Urteil weiter, für die Familien der Opfer endete der zweitinstanzliche Prozess vom 27. bis 29. September 1972 aber mit einer Enttäuschung. In seinem Urteil bestätigte das Kantonsgericht nicht nur den Freispruch, es auferlegte den Zivilparteien auch die Hälfte der Gerichtskosten.

      Für viele Beobachter war diese Kostenauflage unnötig, sogar «skandalös». Und noch heute dauern die Kontroversen um die angeblichen «Fehlurteile» an. Nicht erst das Forschungsprojekt von 2015 hat die Zweifel an der Lageeinschätzung der damaligen Verantwortlichen genährt. Auch der internationale Expertenbericht von 1968 soll den Darstellungen des Gerichtes widersprechen – zumindest in der Analyse der Fakten und der Vorhersehbarkeit der Gefahren. Noch ist der Expertenbericht aber unter Verschluss. 2022 läuft die 50-jährige Schutzfrist für Gerichtsakten des Kantons Wallis ab.

       

      Titelbild: Bergungsarbeiten auf dem zerstörten Barackenlager in Mattmark, 31. August 1965, ©Keystone, Photopress-Archiv, Fotograf Joe Widmer