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Daniele Pometta – «Tunnel-Doktor» und Pionier der Unfallmedizin

Der erste Oberarzt der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt war ein Pionier auf seinem Gebiet. Bekannt wurde er als «Tunnel-Doktor» in Brig, wo er die Bauarbeiter der Simplon-Tunnelunternehmung versorgte. Daniele Pometta war für das Amt des ersten Oberarztes prädestiniert. Es war aber ein Amt, das ihm nicht nur Freunde bescherte.

Inhalt

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      Pometta stammte aus einer Anwalts- und Arztfamilie aus dem Tessin. Geboren wurde er 1869 in Broglio, weit hinten im Maggiatal, als eines von neun Kindern. Angelo Pometta, sein Vater, war Arzt in Giornico, in der unteren Leventina, und starb, als Daniele erst sieben Jahre alt war.

      Daniele Pometta trat zunächst in die Fussstapfen seines Vaters, studierte Medizin und zog 1894 nach Giornico, um dort das Lebenswerk seines Vaters fortzusetzen. Als er 1898 angefragt wurde, ob er als Spitalarzt nach Brig komme, wo die Bauarbeiten für den ersten Simplontunnel zwischen Brig und Iselle begannen, erkundigte er sich bei seinen Kollegen in der Leventina über deren Erfahrungen beim Bau des Gotthardtunnels von 1872 bis 1882. Er wusste, dass die Schwierigkeiten

      ««nicht allein technischer, sondern fast ebenso sehr hygienischer Natur» sein würden.»

      54 statt 25 Grad in der Tunnelröhre

      Doch was auf die Bauarbeiter zukam, übertraf seine Befürchtungen. Weil man wusste, dass es nicht möglich sein würde, eine einzige Tunnelröhre auf einer Länge von 20 Kilometern mit Frischluft zu versorgen, entschied man sich für zwei einspurige Röhren, die alle 200 Meter mit Querschlägen verbunden würden. Vertraglich sicherte man den Bauarbeitern eine Innentemperatur des Tunnels von 25 Grad zu, auf der Schweizer Seite stiegen die Temperaturen aber bis auf 54 Grad.

      Für die ärztliche Versorgung der Tunnelarbeiter errichtete die deutsche Brandt, Brandau & Cie., die als Generalunternehmerin für den Bau verantwortlich war, ein eigenes Spital in Brig. Es wurde im November 1899 eröffnet und verfügte über 28 Betten. In einer sicheren Entfernung von 200 Metern wurde eine Isolationsbaracke mit 12 Betten – etwa für Leprakranke – eingerichtet. Täglich arbeiteten rund 3000 Männer, vorwiegend Italiener, auf der Baustelle.

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      Schichtwechsel: Arbeiter bei der Ausfahrt aus dem Simplonstollen

      1906, nach der Eröffnung des Simplontunnels, reichte Daniele Pometta seine Dissertation an der Universität Lausanne ein. «Sanitäre Einrichtungen und ärztliche Erfahrungen beim Bau des Simplontunnels, 1898−1906, Nordseite Brig» war eine zeitkritische Auseinandersetzung mit den sozial-hygienischen Verhältnissen, nicht nur auf der Baustelle, sondern auch im Lebensalltag. 4000 Zuwanderer und deren Familien hätten kaum anständige Unterkünfte gefunden. Mit den Bauarbeitern hatte sich die Bevölkerungszahl im Einzugsgebiet von Brig innerhalb von wenigen Jahren mehr als verdoppelt.

      Er betreute auch das «Negerdorf»

      Die meisten Zuwanderer kamen aus den ärmsten Gebieten der italienischen Provinzen. Pometta schätzte die Zahl der Analphabeten auf 70 Prozent, in Naters wurde eine Italienersiedlung von der Bevölkerung abschätzig als «Negerdorf» bezeichnet. Die hygienischen Bedingungen waren katastrophal. Es sei dem Zufall zu verdanken, so Pometta in seiner Dissertation, dass es zu keinen grösseren Epidemien gekommen sei. 1901 brach eine Typhusepidemie in Brig aus, in Naters wurden die Pocken eingeschleppt – mit Todesfolgen. Innerhalb von acht Tagen wurden 3800 Personen gegen das Pockenvirus geimpft. Brig musste bis 1902 auf die erste Wasserversorgung warten. In der Lokalpresse war die Rede von 199 Typhustoten. Während der ganzen Bauzeit starben 67 Bauarbeiter an den Folgen von Bauunfällen.

      Dazu, so Pometta in seiner Dissertation, gesellte sich für Männer, die ohne Familien nach Brig gekommen waren und teilweise über kein eigenes Bett verfügten, sondern in «Pinten» übernachteten,

      «die «Sucht nach Belustigungen, vereint mit dem bösen Dämon des Alkohols».»

      Geschlechtskrankheiten waren für Pometta an der Tagesordnung, ebenso Verletzungen, die im Streit entstanden. In den ersten Jahren behandelte er 19 Patienten wegen Schussverletzungen und forderte deshalb ein Schusswaffenverbot. Als dieses durchgesetzt wurde, habe er «es hinterher fast bereut». «Anstelle der Schussverletzungen hatten wir es mit einer Menge gefährlicher Messerstiche zu tun.»

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      Krankensaal im Spital der Unternehmung für den Bau des Simplontunnels in Brig

      Pometta bringt die Ärzte gegen sich auf

      1906 verpflichtete sich Pometta, auch die ärztliche Leitung während des Baus des Lötschbergtunnels (1907 bis 1913) zu übernehmen. Wie zuvor für die Nordseite des Simplontunnels war er nun für die Südseite des Lötschbergtunnels zuständig. Da auch der Ausbau der zweiten Röhre des Simplontunnels fortschritt, entschied sich Brig, ein eigenes Spital zu bauen. 1908 wurde das Kreisspital Oberwallis eröffnet, Pometta war der erste Spitalarzt.

      Dort allerdings verdarb er es sich mit den privaten Hausärzten, denen er es untersagte, ihre Patienten auch im Spital zu behandeln, geschweige denn zu operieren. Die sogenannte «Spitalarztfrage» artete zu einer wüsten Fehde in der Lokalpresse aus. Pometta lehnte 1913 sogar eine Berufung zum Professor an die Universität Lausanne ab, um «sein» Spital nicht im Stich zu lassen.

      1912 war Pometta bereits als Gründungsmitglied in den Verwaltungsrat der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt in Luzern berufen worden, 1914 wurde er zum ersten Oberarzt der neuen Anstalt gewählt. Demissioniert hatte er in Brig bereits am 10. April 1914, er verliess das Oberwallis aber erst im September 1915, weil sich sein Arbeitsbeginn in Luzern wegen des Kriegsausbruchs verzögerte.

      Wahl in Luzern war umstritten

      Aufgrund seiner Erfahrung als «Tunnel-Doktor» war Pometta prädestiniert für den Posten in Luzern. Dennoch war seine Wahl umstritten. Aus den insgesamt 49 Bewerbungen hatte sich die Findungskommission für einen Zweiervorschlag entschieden – neben Pometta wurde auch August Rikli, ein Spitalarzt aus Langenthal, vorgeschlagen. In ihrem Antrag an den Verwaltungsrat legte sich die Direktion aber auf einen einzigen Kandidaten fest – auf Pometta. Der ausgebootete Rikli kündigte an, eine allfällige Wahl abzulehnen.

      In der Kernfrage ging es in der Verwaltungsratssitzung vom 22. Januar 1914 um einen politischen Streit. Rikli war SP-Mitglied, Pometta nicht. Pometta sei – so argumentierte Herman Greulich, Gewerkschaftsführer und Gründer der schweizerischen SP – ein Arzt, der

      «in seiner bisherigen Tätigkeit als Unfallarzt fast ausschliesslich italienische Arbeiter zu behandeln» hatte. Die schweizerischen Arbeiter seien «andersgeartet» und hätten höhere Rechtsansprüche.»

      Dies wiesen andere Redner zurück. Pometta habe den Vorteil, dass er dreisprachig sei, und habe in Brig auch Schweizer behandelt. Entscheidend sei «allein das Mass der Erfahrungen auf dem Gebiete der Unfallheilkunde». Josef Beck, Vertreter der katholischen Arbeiterorganisationen, zeigte sich «überzeugt, dass auch der sozialdemokratische Teil der Arbeiterschaft mit Herrn Dr. Pometta sehr zufrieden sein wird», Pometta sei «als wahrer, aufrichtiger Arbeiterfreund beliebt».

      Die sozialdemokratischen Arbeitnehmervertreter fühlten sich im Verwaltungsrat verschaukelt, weil sie 1913 bereits der Wahl von Alfred Tzaut als Direktor zugestimmt hatten – entgegen ihrer Überzeugung. Tzaut war zuvor Präsident der privaten Assurance Mutuelle Vaudoise in Lausanne und ein vehementer Gegner des Versicherungsgesetzes gewesen. Nach einer hitzigen Debatte wurde Daniele Pometta schliesslich mit 25 zu 5 Stimmen (bei 3 Enthaltungen) gewählt.

      Unfallmedizin noch in den Kinderschuhen

      Pometta übernahm sein Amt zu einer Zeit, als die Unfallmedizin in der Schweiz noch in den Kinderschuhen steckte. 1912 war die «Gesellschaft der Schweizer Unfallärzte» gegründet worden. Danach wurde die Unfallmedizin auch in die Lehrpläne der schweizerischen Universitäten aufgenommen.

      Organisatorisch lag es an Pometta, den ärztlichen Dienst der Versicherungsanstalt aufzubauen. Die ersten Kreisärzte waren noch im Nebenamt beschäftigt, erst 1927 wurde das Vollamt eingeführt.

      Die medizinischen Herausforderungen ergaben sich aus den hygienischen Bedingungen der Zeit und in der Unfallmedizin aus der Infektionsgefahr bei Operationen. Knochenbrüche wurden damals mit Zugeinrichtungen oder Gipsverbänden fixiert. Dabei kam es immer wieder zu Verschiebungen und Komplikationen.

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      Zugvorrichtungen mit Fixiernägeln (Nagelextension) für die Behandlung von Knochenbrüchen in der Armeesanitätsanstalt in Luzern

      Aus der versicherungstechnischen Warte lag das Hauptanliegen von Pometta darin, die Verunfallten so schnell als möglich zurück in den Arbeitsprozess zu integrieren. Unter ihm wurde mit dem «Quellenhof» (später «Schiff») in Baden auch das erste Nachbehandlungszentrum eingerichtet. 1929 war die Bäderheilanstalt, an die 1936 auch eine «Amputiertenschule» angegliedert wurde, gewissermassen ein Vorläufer der späteren Rehabilitationskliniken.

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      Patienten in der Bäderheilstätte Schiff in Baden bei Turnübungen, 1937

      Ärzte nicht interessiert an Chefposten

      Die in der «Verbindung der Schweizer Ärzte» (FMH) organisierten Privatärzte nahmen Pometta – zusammen mit Alfred Tzaut – als eine Bedrohung für die freie Arztwahl wahr. Der ehemalige Spitalarzt, der Hausärzte aus der Klinik in Brig ausgeschlossen hatte, und der ehemalige «Kassendirektor», der nicht müde wurde, die Arzthonorare und das «Überpraktizieren» der Ärzte zu kritisieren, wurden für den Konfrontationskurs der Anstalt verantwortlich gemacht.

      So waren die Ärzte nicht unglücklich, als Pometta in den Ruhestand trat. Und sie waren nicht erpicht auf seinen Posten. 1934, als die Stelle für die Nachfolge von Pometta in der Fachpresse ausgeschrieben wurde, gingen nur gerade fünf Bewerbungen ein – drei von Ausländern, die nicht in Frage kamen, «da die Anstalt grundsätzlich nur Schweizerbürger anstellt», wie Alfred Tzaut den Verwaltungsausschuss am 25. April 1934 unterrichtete. Die beiden Schweizer Kandidaten erfüllten die Anforderungen nicht.

      Tzaut ging auch auf die Gründe ein, weshalb sich die Ärzte «kein richtiges Bild» von der Oberarzt-Stelle machten: «Man stellt sich einen etwas untergeordneten Posten vor. So erklärt es sich, dass vor einigen Jahren aus diesen Kreisen die Forderung auftauchte, der Oberarzt solle Mitglied der Direktion sein.» Hermann Schüpbach, Präsident des Verwaltungsrates, ergänzte,

      «dass die in der Fachpresse der Ärzte wiederholt ausgesprochene und auch in nichtärztliche Kreise eingedrungene Meinung, selbst in rein ärztlichen Fragen entscheide nicht der Oberarzt, sondern die Direktion, der Wirklichkeit keineswegs entspricht». Dabei bedürfe es der Absprachen zwischen dem Oberarzt und der Direktion. «In der Ärzteschaft», so Schüpbach, «scheint man zu übersehen, dass Fragen ärztlicher Natur oft mit administrativen Fragen zusammenhängen.»

      Daniele Pometta

      geboren 1869 in Broglio, gestorben 1949, Staatsexamen als Arzt (1894), Arzt der Simplonbaugesellschaft Brandt, Brandau & Cie. auf der Nordseite (1898-1906), Spitalarzt am Kreisspital Oberwallis in Brig (1908-1914), Chefarzt der Generalunternehmung der Lötschbergbahn (Südseite, Simplontunnel II, 1912-1914), Promotion an der Universität Lausanne (1906), erster Oberarzt der Suva (1914-1934)

      Titelbild: Daniele Pometta (rechts) im Chirurgiesaal des Spitals der Simplon-Unternehmungen in Brig.