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Sitten machte das Rennen gegen Delsberg

Die zweite Rehabilitationsklinik der Suva entstand in den Neunzigerjahren in der Westschweiz. Dabei setzte sich Sitten in der Standortfrage gegen Delsberg durch – nicht ohne Nebengeräusche innerhalb der Suva. Was damals den Ausschlag gab, erwies sich als Vorzug – die unmittelbare Nähe des Akutspitals. Heute ist die «Clinique romande de réadaptation» (CRR) hochspezialisiert und vernetzt. Und sie hat bereits den ersten Ausbau hinter sich.

Inhalt

      Es war ein kleiner Paukenschlag, als Franz Steinegger, Präsident des Suva-Verwaltungsrates, am 8. April 1991 an einer Medienkonferenz in Luzern ankündigte, dass sich die Suva mit der festen Absicht trage, eine zweite Rehabilitationsklinik zu errichten – und zwar in der Westschweiz.

      Nach der Berichterstattung in den Medien seien «gegen 100 Offerten von Westschweizer Gemeinden» eingegangen, erklärte Steinegger am 3. Juli 1992 vor dem Verwaltungsrat. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Direktion bereits eine erste Selektion vorgenommen. Aufgrund eines detaillierten Anforderungskataloges, so Steinegger, seien sechs Standorte in die engere Auswahl gekommen, mindestens ein Standort aus jedem Kanton der Westschweiz – mit Ausnahme von Genf. Von dort sei keine Offerte eingegangen.

      Anschliessend habe sich die Direktion auf eine zweieinhalbtägige Rundreise begeben, um die sechs Standorte – Fribourg, Sion, Lausanne, Yverdon, Neuchâtel-Marin und Delémont – zu besichtigen. «Aufgrund dieser Augenscheine und des Ergebnisses der Gespräche mit den jeweiligen Behördenvertretern», so der Suva-Präsident, seien noch Sitten, Neuenburg und Delsberg auf der Liste verblieben. Für den definitiven Entscheid werde man eine Machbarkeitsstudie erstellen, die sowohl auf die Wirtschaftlichkeits- als auch auf die Standortfrage eingehe.

      Zu beiden Punkten gab es keine Einstimmigkeit innerhalb des Suva-Verwaltungsrates. Kontrovers debattierte der Rat am 2. Juli 1993 über die entsprechenden Vorlagen der Direktion.

      Wünschbar oder notwendig?

      Ob es einen Bedarf für eine zweite Rehabilitationsklinik in der Schweiz gebe, zweifelten vor allem Vertreter der Arbeitgeber an. Kliniken seien ein Verlustgeschäft, sagte Wilfried Rutz, Verwaltungsratsdelegierter der Debrunner, Koenig Holding AG in St. Gallen. Das «an und für sich wünschbare Vorhaben» sei deshalb «nicht dringlich». Heinz Allenspach, FDP-Nationalrat aus Zürich und Direktor des Arbeitgeberverbandes, befürchtete eine Überdimensionierung. Er stellte in Frage, ob es gelingen werde, die Betten in Sitten zu füllen.

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      Dem widersprach Dominik Galliker, Direktionspräsident der Suva. Bei diesem Geschäft handle es sich «nicht um eine Wünschbarkeit …, sondern um eine Notwendigkeit».

      Erstens gebe es in der Westschweiz «nur sehr wenige Betten für Rehabilitationspatienten», zweitens betrage die Wartefrist in Bellikon zwischen vier und sechs Wochen. Und: «Wir stellen zunehmend ein grösseres Interesse der Krankenkassen und der Privatassekuranz fest, ihre Patienten bei uns unterzubringen.»

      Zudem gebe es – was die Arbeitgebervertreter nicht in Abrede stellten –

      ««nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine ethische Verantwortung»,»

      Man nehme in Bellikon immer mehr Unfallopfer mit Schädel-Hirnverletzungen auf. Dabei handle es sich «vorwiegend um junge Leute, meistens Motorradfahrer». Wenn es keine Rehabilitationsmöglichkeiten gebe, würden diese Patienten – immerhin rund 300 pro Jahr – «in einem Spital liegen, … dann in irgendein Heim abgeschoben, wo sie ihr Leben lang dahinvegetieren… und das, meine Damen und Herren, können wir nicht akzeptieren und auch nicht verantworten.»

      Rehabilitation vs. Renten

      Dazu komme der wirtschaftliche Aspekt. Erstens nehme das Defizit der Rehabilitationsklinik in Bellikon ab, sie werde 1993 vermutlich sogar einen kleinen Gewinn schreiben (was sich mit 570 000 Franken auch bewahrheitete). Zweitens gehe es um eine einfache Rechnung, wenn man die Rehabilitationskosten mit den Rentenleistungen vergleiche, die zu erwarten wären, wenn man keine Rehabilitation anbiete. Es seien, so Galliker, «einige 10 Millionen Franken pro Jahr» – umgerechnet auf die projektierte Grösse in der Westschweiz.

      Rolf Lanz, Vertreter der Ärzteschaft und ein Spezialist in Fragen der Katastrophenmedizin, brachte es auf den Punkt:

      ««Gewiss seien die Rehabilitationsaufgaben «ausserordentlich komplex und damit zugegebenermassen sehr teuer; teurer ist nur noch das Fehlen der Rehabilitation oder eine zu späte Rehabilitation».»

      Delsberg wittert ein abgekartetes Spiel

      Genau dieser Punkt – die frühe Zuweisung in die Rehabilitation – gab den Ausschlag auch für die Standortwahl. Die unmittelbare Nähe des Akutspitals sei «einer der wesentlichsten Gründe», erklärte Dominik Galliker vor dem Verwaltungsrat, weshalb man Sitten vorschlage. Dort seien die Synergien optimal.

      Enttäuscht und verärgert über den Vorschlag war Pierre Boillat, CVP-Regierungsrat und Gesundheitsdirektor des Kantons Jura. In der Endausmarchung waren sich Sitten und Delsberg gegenübergestanden. Delsberg hatte sogar eine Volksabstimmung durchgeführt, um Land für die Klinik einzuzonen. Boillat kritisierte den Vorschlag, der «offensichtlich auf vorgefassten Meinungen» beruhe. Delsberg habe keinen Einsitz in die Evaluationsgruppe gehabt, der Schlussbericht enthalte Widersprüche und Ungenauigkeiten, der Standort in Delsberg grenze auch an ein Spital an, befinde sich nur 500 Meter von der Innenstadt und biete einen hohen Erholungswert. Zudem sei das Land um mehr als die Hälfte günstiger als in Sitten. Er habe den Eindruck erhalten, «les carottes étaient déjà cuites», der Bericht habe nur das Ziel verfolgt, den vorgefassten Standortentscheid für Sitten zu untermauern.

      Saubere Luft, aber…

      In der lebhaften Diskussion, die folgte, warf Roland Conus, Zentralsekretär der Gewerkschaft Bau und Industrie, auch als Vertreter aus der Westschweiz ein, «dass es im Jura und in Delémont schön und die Luft dort sauber» sei, dass aber «die Romands generell lieber ins Wallis reisen als in den Jura». Das gelte eindeutig für die Einwohner der Kantone Genf, Waadt und Freiburg.

      Rolf Lanz unterstrich, dass er dem «Kriterium der unmittelbaren Akutspital-Nachbarschaft absolut die erste Priorität» beimesse. Erstversorgungszentren für Schwerstverletzte gebe es in der Westschweiz nur in Lausanne, Genf und eben in Sitten. Und was den Standort auf der grünen Wiese betraf, ergänzte Dominik Galliker, dass man eine «Klinik heute mit Sicherheit nicht mehr in Bellikon errichten» würde, sondern in der Nähe eines Akutspitales.

      In der Abstimmung wurde der Vorschlag der Direktion mit 25 zu 6 Stimmen bei 5 Enthaltungen angenommen; in Sitten sollte eine Klinik mit 112 Betten entstehen und das gleiche Angebot wie Bellikon bieten – physikalische Medizin, orthopädische Rehabilitation, Neuro-Rehabilitation, Hand-Rehabilitation, Psychosomatik, berufliche und soziale Rehabilitation. Nur die hochspezialisierte Arm-Prothetik war in Sitten nicht vorgesehen.

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      Spatenstich für die Rehabilitationsklinik in Sitten, 9.9.1996
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      Luftaufnahme der Rehabilitationklinik Sitten, 2006

      Architektenwettbewerb mit 109 Teilnehmern

      1994 wurde ein öffentlicher Architektenwettbewerb ausgeschrieben. 109 Teilnehmer aus der Westschweiz reichten Projekte ein, als Sieger gingen Peter Staub aus Lausanne und René Braune aus Lutry mit ihrem «Pas de deux» hervor. Auch für die Wahl der Architekten war die beste «Eingliederung in die Nachbarschaft des bereits bestehenden Regionalspitals» ausschlaggebend.

      Über den Baukredit in der Höhe von 155,4 Millionen Franken befand der Suva-Verwaltungsrat am 5. Juli 1996. Er beschloss, ein fünftes Bettengeschoss von der Nachfrage abhängig zu machen und reservierte dafür eine zusätzliche Tranche von 7 Millionen Franken. 1997 verzichtete er aus Wirtschaftlichkeitsüberlegungen auf das fünfte Geschoss.

      Eröffnet wurde die Klinik am 9. September 1999 – zunächst mit 8 Patienten, dann, um die Anlaufphase zu erleichtern, mit 56 und bis Ende Jahr mit 95 Patienten. 2000 war die Klinik bereits zu 83 Prozent belegt, die durchschnittliche Aufenthaltsdauer betrug 35 Tage. 75 Prozent der Patienten waren Suva-Versicherte, 20 Prozent wurden von Krankenkassen und 5 Prozent von Unfallversicherern überwiesen. In der neurologischen Rehabilitation wurden rund 25 Prozent der Verletzten behandelt.

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      Wachstum, Spezialisierung und Vernetzung

      In den folgenden Jahren wuchs die Klinik kontinuierlich. Und sie folgte dem Trend der Spezialisierung und der Vernetzung in der Rehabilitationsmedizin. 2002 führte sie ein Angebot der sogenannten «Berufserprobung» ein. Dafür erstellte sie Werkhallen für Metall-, Holz- und Bauarbeiten. 60 Prozent der Patienten nutzten die neue Infrastruktur für den ersten Schritt der beruflichen Wiedereingliederung. 2005 folgte ein Zentrum für Verletzte mit schweren Verbrennungen, das in enger Zusammenarbeit mit der Klinik für plastische und Wiederherstellungschirurgie des Universitätsspitals Lausanne entstand. 2005 wurde zudem das Forschungsinstitut für Rehabilitation eröffnet – mit Beteiligung der Klinik Sitten, des Kantons Wallis, der Stadt Sitten, der ETH Lausanne und des Universitätsspitals Lausanne.

      2006 erfolgte ein wichtiger Spezialisierungsschritt; die Clinique romande de réadaptation konzentriert sich auf die orthopädische Traumatologie und auf Spezialfälle der Paraplegie. 2009 wurde eine Zusammenarbeit mit der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung (SPV) für die Betreuung von Querschnittgelähmten vereinbart. 2009 – zehn Jahre nach der Eröffnung – war der Jahresumsatz der Klinik von 28 auf fast 40 Millionen Franken gestiegen, die Zahl der Vollzeitstellen von 160 auf 228. Und die Bettenauslastung lag nun bei 98 Prozent.

      Ausbau von 110 auf 145 Betten

      Jährlich wurden nun fast 1000 Patienten behandelt. 2012 war der Zeitpunkt für einen Ausbau der Klinik gekommen. Mit einem Erweiterungsbau wurde die Kapazität zwischen April 2013 und Februar 2015 um rund 30 Prozent erhöht. Gleichzeitig wurden ein Forschungslehrstuhl für Neuro-Engineering und Neuroprothetik der ETH Lausanne eingerichtet und die Räumlichkeiten für die Sportmedizin erweitert. Sitten ist als «Swiss Olympic Medical Center» anerkannt.