Das grosse Buhlen um die Suva in Luzern
Luzern war zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine boomende Stadt. 1913 zählte die Stadt bereits rund 45'000 Einwohner, und nun kam auch die neue Unfallversicherungsanstalt nach Luzern. Entsprechend gross war das Buhlen der Quartiere und der verkaufswilligen Grundeigentümer – insbesondere der Stadt Luzern – um die Suva.
Inhalt
Kaum hatte sich der Verwaltungsrat konstituiert und die Planung für den Bau des neuen Hauptsitzes aufgenommen, lagen dem Bautenausschuss bereits «Angebote für ungefähr zehn Grundstücke» vor. Es waren schliesslich 17, und Ende Mai 1913 trafen die Direktion und der Bautenausschuss bereits eine erste Vorauswahl. Dabei wurden «nach Besichtigung alle bis auf drei als nicht geeignet erachtet».
Anfänglich hatte man auch einen kombinierten Neubau mit der Nationalbank an der Pilatusstrasse, der 1896 nach dem Neubau des Bahnhofes entstandenen neuen Paradestrasse von Luzern, in Betracht gezogen. Allerdings erwiesen sich die Bedürfnisse der beiden Institutionen als zu unterschiedlich und Planung und Bau hätten im morastigen Schwemmgebiet des Krienbaches zu lange gedauert; die Nationalbank eröffnete ihre Zweigstelle in Luzern erst 1922.
Stadt hatte grosse Ziele
Ein prominentes Grundstück auf der gleichen Stadtseite bot die Stadt Luzern an – den Platz neben dem Bahnhof, wo das frühere Kriegs- und Friedensmuseum (heute KKL) stand. Dort traf sie Abklärungen für ein neues Verwaltungsgebäude, das Post, Nationalbank und Suva vereint hätte. Der damalige Stadtpräsident, Hermann Heller, proklamierte den Standort als «die beste Lösung». «Auf diesem Platze allein kommt die Unfallversicherungsanstalt zur wahren Geltung», schrieb er am 1. Februar 1913. Mit einem Quadratmeterpreis von 400 Franken nahm sich die Stadt aber selber aus dem Rennen.
Angebote gingen auch aus dem Obergrund- und dem Haldenquartier ein. Wie es in den Verhandlungsprotokollen des Suva-Verwaltungsrates heisst, waren die Grundstücke im Obergrund nicht geeignet, «weil sie der Nachmittagssonne entzogen sind», in der Halde, «weil sie in einem spezifischen Villen- und Hotelviertel liegen».
Ein weiterer Bauplatz hinter der Hofkirche wurde abgelehnt, «weil in dieser Gegend die notwendigen Zugangsstrassen noch ihrer Verwirklichung harren».
Von den drei verbliebenen Angeboten schied auch die Offerte des Luzerner Regierungsrates aus. Dieser hatte die «Abtretung des Kantonsschulgebäudes am oberen Hirschengraben um den Preis von 940 000 Franken» vorgeschlagen. Doch auch hier entschied der Zeitfaktor: Zuerst hätte der Kanton ein neues Kantonsschulgebäude erstellen müssen, die Suva wäre vor erheblichen Umbauten gestanden.
Vögeligärtli oder Fluhmatt?
So beriet der Verwaltungsrat am 28. Mai 1913 über zwei konkrete Standorte – über den «Bauplatz im alten Gaswerk» (dort, wo heute die Zentral- und Hochschulbibliothek steht) und den barocken Landsitz «Fluhmatt» von Ludwig zur Gilgen.
Schon in den ersten Verhandlungen wurde deutlich, dass sich der Verwaltungsrat für die Fluhmatt interessierte. Eigentümerin des alten Gaswerkes war die Stadt Luzern, die mit Stadtrat Josef Albisser auch im Suva-Verwaltungsrat vertreten war. Sie bemühte sich um den Zuschlag, senkte den Verkaufspreis für die 3280 Quadratmeter grosse, quadratische Parzelle von 400 000 Franken auf zunächst 328 000, dann auf 300 000 Franken.
Für den Standort im Sempachergarten (der im Volksmund auch «Vögeligärtli» genannt wird) sprach die zentrale Lage. Als «weniger günstig» wurden die Grundwasserverhältnisse und der Baugrund bezeichnet, zudem die eingeschränkten Planungsfreiheiten angesichts der hohen Wohnbauten rund um den Sempachergarten.(Abbildung Alternativstandort Himmelrichmatte)
Albisser insistierte. Er wies darauf hin, dass «drei Viertel der Bevölkerung» für einen zentralen Standort seien, dass der Stadtrat bereits eine Sondersitzung anberaumt habe, «um offene Fragen zu klären», und dass auch die planerischen Einschränkungen nicht gegen das «Vögeligärtli» sprächen: «Die gesetzliche Bauhöhe bildet keinen Grund … , da sie in praxi, wenn die Verhältnisse es erfordern, in den meisten Fällen überschritten werden darf. » Paul Usteri, Verwaltungsratspräsident der Suva, widersprach. «Es wäre unvorsichtig, sich auf diese Praxis zu stützen» sagte er in der Sitzung vom 25. Juni 1913.
Kampf der Quartiervereine
In die Debatte um den Standort hatten sich auch die betroffenen Quartiervereine der Stadt Luzern eingeschaltet. Für das alte Gaswerk setzten sich die Quartiervereine Obergrund, Hirschmatt und Kleinstadt ein, während der Beratungen des Verwaltungsrates ging auch ein Schreiben des Stadtpräsidenten ein. Für die Fluhmatt machte sich die Quartiervereine Hochwacht, Centralgrossstadt und Halde stark. Dort, so argumentierten die rechtsufrigen Quartiervereine, wäre die Anstalt
«dem Lärm des städtischen Verkehrs entrückt, … aber doch in unmittelbarer Nähe des Stadtzentrums.»
Ausserdem, so wehrte sich der Quartierverein Centralgrossstadt in einem separaten Schreiben, besitze die Kleinstadt mit Bahnhof und Nationalbank «jetzt schon so zu sagen alle öffentlichen Gebäude», der rechtsufrige Stadtteil dürfe nicht «für immer ausgeschaltet werden». Wenn nun auch die Gesellschaft für Handel und Industrie für die linksufrigen Interessen eintrete, müsse «gegen solche Zumutung öffentlich Protest erhoben werden».
Gutachten eindeutig für Fluhmatt
In diesem Sinne äusserte sich auch ein externes Gutachten, das im Juni 1913 von Hermann Weideli, Architekt aus Zürich, im Auftrag des Suva-Verwaltungsrates erstellt wurde. Weideli hielt fest, dass «die bauliche Umgebung des Platzes der alten Gasfabrik eine recht unerfreuliche, dass dagegen die Lage der ‹Fluhmatt› für die Errichtung eines öffentlichen Gebäudes eine ideale ist, ähnlich derjenigen der eidgenössischen technischen Hochschule in Zürich.»
Am 25. Juni 1913 sprach sich der Verwaltungsrat mit 31 zu 5 Stimmen für den Standort auf der Fluhmatt aus, am 7. Juli 1913 wurde der Kaufvertrag mit Frau Marie zur Gilgen geb. Ambühl, Ehegattin des Hrn. Louis zur Gilgen, als Eigentümerin der Liegenschaft Fluhmatt abgeschlossen.
Damals nannte sich die Suva in offiziellen Dokumenten übrigens noch nicht «Suva», sondern «S.U.L.» (Schweizerische Unfallversicherungsanstalt Luzern).
Schneller Profit nach Erbschaft?
Unumstritten war aber auch der Standort auf der Fluhmatt nicht. Vor allem der Verkaufspreis, an dem Ludwig zur Gilgen auch nach mehreren Verhandlungsrunden festhielt, gab zu reden. Für die Liegenschaft mit 14 915 Quadratmetern Land, zwei Wohngebäuden, einem kleineren Gebäude und einer Scheune forderte er 425 000 Franken.
Daran stiessen sich die Befürworter des Gaswerk-Areals, denn zur Gilgen habe die Fluhmatt erst zwei Jahre zuvor aus der Erbschaft Ambühl für nur 230 000 Franken erworben. Zweimal, so Josef Albisser, sei der Versuch gescheitert, die Liegenschaft in öffentlichen Versteigerungen zu veräussern, aber auch für 225 000 Franken habe sich kein Käufer gefunden. Zudem befinde sich die Liegenschaft in der Nähe einer Bierbrauerei mit Rauch- und Geruchsimmissionen. Jakob Blattner, der als Baumeister im Suva-Verwaltungsrat sass und ebenfalls Stadtrat von Luzern war, merkte an, dass eine Baufirma kürzlich 400 000 Franken für die Liegenschaft geboten habe.
Eine «günstige Silhouette» für die Stadt
Für die Fluhmatt sprach von Anfang an die Lage. «Sie lässt mit Bezug auf Luft und Licht nichts zu wünschen übrig», hiess es bereits im ersten Antrag des Verwaltungsausschusses, zudem habe die Anstalt hier
«alle Freiheit, ihre Baute nach ihren Bedürfnissen – auch unter Berücksichtigung des Stadtbildes – zu plaziren und zu disponiren.»
Auch die Grösse der Parzelle sei kein Hinderungsgrund, zumal man sich damit Erweiterungsmöglichkeiten offenhalte.
Weideli betonte in seinem Gutachten, dass eine zentrale Lage nicht vorrangig sei, denn «der Verkehr des Publikums wird sich stets in ziemlich engen Grenzen halten». Hermann Häberlin, Arzt aus Zürich und Bundesvertreter im Suva-Verwaltungsrat, sah die Standortwahl «auch im Interesse der Stadt, weil sie dem Stadtbilde auf jenem überragenden Hügel eine günstige Silhouette schaffen und es vor der Möglichkeit einer Entstellung durch künstlerisch unvorteilhafte Bauten bewahren kann».
Ähnlich argumentierte auch der Innerschweizer Heimatschutz. Wilhelm Amrein, Direktor des Gletschergartens in Luzern und Obmann der Heimatschutzvereinigung, bemühte sich persönlich um den Standort auf dem Fluhmattareal, «damit dieser schöne Punkt nicht der Privatspekulation anheimfalle». An ihrer Jahresversammlung vom 1. Juni 1913 im Rathaus Sursee «stimmte die Versammlung gerne dem Wunsche zu, es möchte das Verwaltungsgebäude der schweiz. Unfallversich. Anstalt auf die weitausschauende Fluhmatt über der Musegg zu stehen kommen». Wie das Protokoll vermerkt, sehe man «lieber einen charakteristischen Monumentalbau mit hübschen Vorgärten als ein Gemisch von Bauten in allen möglichen und unmöglichen Stilarten».
Kein palastähnliches Gebäude
An eine monumentale Silhouette dachte zu diesem Zeitpunkt aber noch kaum jemand. «Die vorberatenden Instanzen sind der Meinung, dass ein der Aufgabe und Zweckbestimmung entsprechendes, aber nicht luxuriöses oder palastähnliches Gebäude erstellt werden solle», hiess es im Antrag an den Verwaltungsrat vom 20. Mai 1913.
Da dem Bau keine künstlerische Bedeutung zukomme, sei «auch kein allgemeiner schweizweiter Architektenwettbewerb nötig», empfahlen der Verwaltungs- und Bautenausschuss. Man könne sich auf einen einfachen Wettbewerb unter Luzerner Architekten beschränken:
«Es sind in Luzern eine Reihe von Architekten tätig, die durchaus in der Lage sind, mit Erfolg zu konkurriren und die legitimen Interessen luzernischer Bauweise zur Genugtuung der Anstalt und ihres Sitzes zu verwirklichen.»
Paul Usteri erkannte die städtebauliche Bedeutung und betonte am 28. Mai 1913, das Gebäude solle auch «eine nützliche Unterstützung der baulichen Entwicklung der Stadt Luzern» darstellen. Die betrieblichen Erfordernisse ständen aber im Vordergrund, vor allem sollten Zentralverwaltung und Generalagentur im gleichen Gebäude sein, um der Zentralverwaltung «möglichst den steten, innigen Kontakt mit dem Leben zu erhalten».
Der Bautenausschuss der Suva ging damals von den folgenden Annahmen aus:
- Zentralverwaltung und Agentur mit 145 Beamten, netto 16 Quadratmeter pro Arbeitsplatz;
- Verwaltungsratsräume: 380 Quadratmeter;
- Ausstellungsräume für Einrichtungen der Unfallverhütung: 400 Quadratmeter;
- Gesamtnettofläche: 3100 Quadratmeter, erhöht um die Hälfte (Berechnung analog SBB-Gebäude in Bern) und aufgerundet, das heisst 5000 Quadratmeter;
- Mittlere Stockwerkhöhe von 4 Metern (einschliesslich Untergeschoss und Dachboden), das heisst Bauvolumen von 20 000 Kubikmetern;
- Baukosten von 38 Franken pro Kubikmeter, das heisst 760 000 Franken plus Landerwerb, Umgebung und Mobiliar.