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30. September 2022 | von Thomas Meier, Fabio Sorrentino

Bionische Prothesen für die Hand

Unter Bionik werden Forschungs- und Entwicklungsansätze verstanden, die auf der Suche nach Problemlösungen und Innovationen Wissen aus der Analyse lebender Systeme auf technische Systeme übertragen. Die Übertragung von der Biologie zur Technik ist dabei das zentrale Element der Bionik (Definition des Vereins Deutscher Ingenieure, VDI). In diesem Sinne werden bionische Prothesen gedanklich gesteuert, indem sie die Aktivierung verbliebener Muskeln im Extremitätenstumpf registrieren. Die Erzeugung einer Bewegung der Prothese bzw. einzelner Komponenten der Prothese erfordert ein spezielles «Denken» der Person, da der gedankliche «Befehl» an einen Muskel geht, der keine eigentliche «Aktion» ausführt. Dieser Prozess verlangt intensives Training und es ist nicht einfach, dabei für alle Aktionen ein ausreichendes Muskelpotential zu erzeugen.

Inhalt

Der Ersatz von Gliedmassen bei Verlust durch kriegerische Auseinandersetzungen, durch Unfall oder Krankheit beschäftigt die Medizin seit alters her. Bereits im alten Ägypten fertigte man erste Exoprothesen an. 1530 benutzte Götz von Berlichingen bereits eine mechanisch von aussen bedienbare Hand mit Greiffunktion. In den Kriegszeiten der Neuzeit gewann die Prothetik zunehmend an Bedeutung. Gerade die Hand zu ersetzen blieb eine Herausforderung, da sie nicht nur als das wichtigste «Werkzeug» des Menschen fungiert, sondern über die Gestik auch dem Ausdruck emotionalen Empfindens dient.

Neue Möglichkeiten

In den letzten Jahren hat sich die Exoprothetik enorm weiterentwickelt, dies auch für Hand und Arm. Aus dem früheren, überwiegend mechanisch bedienten Ersatz von Gliedmassen entstanden erste myoelektrisch betriebene Prothesen mit anfangs noch wenigen Funktionen. Nachdem es gelang, kleine, leistungsstarke Motoren herzustellen, fanden diese auch in der Prothetik Einsatzmöglichkeiten. Dadurch sind heute hochwertige Handprothesen verfügbar, die jedoch einer feinen Steuerung bedürfen. Diese Prothesen ermöglichen eine nahezu natürliche Greif- und Haltefunktion.

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Abb 1: Die Steuerung der Fingergelenke durch Mikromotoren
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Abb 2: Die Handprothese, hier noch ohne «Haut» aus Silikon
©Copyrights by Össur hf

Stehen bei transradialer Amputation (auf Höhe des Unterarms) ausreichend innervierte Muskeln für die Steuerung komplexer myoelektrischer Funktionen zur Verfügung, sind es bei transhumeraler Amputation (auf Höhe des Oberarms) gerade zwei Muskeln, der M. biceps und der M. triceps brachii. Dadurch können die diversen Funktionen von Ellbogen, Handgelenk und Fingern nur seriell, also nacheinander, angesteuert werden und keinesfalls gedanklich-intuitiv. Je nach Qualität der Signale ist nur eine sogenannte digitale Steuerung möglich, die keine Modulierung der Greifgeschwindigkeit oder Greifkraft erlaubt [1]. Deshalb fanden diese Prothesen bei den betroffenen Patienten wenig Anklang.

Um die Steuerbarkeit zu verbessern, wurde 2004 die «Targeted Muscle Reinnervation» (TMR) als Operationsmethode eingeführt. Diese Technik erlaubt eine simultane Steuerung von multiplen Funktionen über mehrere Kanäle und ermöglicht, gleichzeitig mehrere Gelenke zu bewegen und dabei Greifgeschwindigkeit und -kraft den aktuellen Erfordernissen anzupassen [2,3]. Um dies zu gewährleisten, werden die Nerven, die durch die Amputation ihr distales Zielorgan verloren haben, im Wesentlichen der N. radialis, der N. medianus und der N. ulnaris, in mikrochirurgischer Technik an einzelne Muskeln des Stumpfes transferiert, um dort eine suffiziente Anzahl gedanklich-intuitiv steuerbarer Muskelsignale zu kreieren. Entsprechend der Aktivität der Spendernerven spannen sich die Zielmuskeln an und ihre Muskelpotenziale werden über Oberflächenelektroden an die Prothese weitergegeben. Primäres Ziel des chirurgischen Eingriffes ist es, die verletzte Person mit bis zu sechs individuellen Muskelsignalen auszustatten, die eine gedanklich-intuitive Steuerung ermöglichen, welche dem natürlichen Bewegungsmuster entspricht. Voraussetzung für das Gelingen einer solchen Operation sind intakte Muskeln im Bereich des Amputationsstumpfes und ein weitgehend intaktes proximales Armnervengeflecht (Plexus brachialis), um Spendernerven topografisch-anatomisch zu isolieren. Da die transferierten Nerven erst in ihre Zielmuskeln einwachsen müssen und das Signaltraining ebenfalls Zeit in Anspruch nimmt, ist eine erfolgreiche TMR-Prothesenversorgung erst nach etwa 12 Monaten postoperativ abgeschlossen. Darüber hinaus muss die am Oberarm amputierte Person kognitiv in der Lage sein, die verschiedenen Funktionen ihres Prothesenarmes zu visualisieren und mit der notwendigen Ausdauer ein intensives und bisweilen auch langwieriges Signal- und Prothesentraining zu absolvieren [4,5].

Personen mit Nervenausrissverletzungen, wie sie bei einer traumatischen Amputation auftreten können, leiden meistens an quälenden Deafferenzierungsschmerzen, ähnlich wie bei Phantomschmerzen. Entsprechend hat sich die Technik der TMR-Operation mittlerweile als Methode zur Behandlung von Neurom- bzw. Phantomschmerzen bewährt [6]. 

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Abb 3: Lage der Elektroden in der Oberarmhülse
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Abb 4: Die Steuerung der Pronation und Supination am Handgelenk
©Copyrights by Össur hf

Der Fall

Ein 46jähriger Betriebsmaler erlitt 2015 infolge eines Verkehrsunfalls eine Amputation am linken Oberarm und am linken Unterschenkel. Nach mehreren Eingriffen am Femur und am Oberarmstumpf wurde er mehrfach zur Rehabilitation in die Rehaklinik Bellikon überwiesen. Trotz operativer Massnahmen litt er an beiden Stümpfen unter ausgeprägten neurombedingten Beschwerden. Bei einem dieser Aufenthalte erfolgte die Erstversorgung durch eine provisorische myoelektrische Oberarmprothese mit zwei Oberflächenelektroden und einer myoelektrischen Greifhand, die zunächst den Anforderungen genügte, da zwei Muskelsignale vorhanden waren. Bei der Anpassung der definitiven Prothese zeigten sich Probleme mit den Muskelsignalen am Triceps und man musste auf eine einzige Oberflächenelektrode ausweichen. Dies schränkte die Funktionsmöglichkeiten der Prothese erheblich ein, so dass sie beim Patienten keine wirkliche Akzeptanz fand.

Zur Verbesserung der Phantomschmerzen wurde im Dezember 2015 am Inselspital Bern eine Narbenkorrektur und eine sekundäre Nervennaht der Stammnerven am Unterschenkel durchgeführt. Im Januar 2016 erfolgte die gleiche Operation am Oberarmstumpf, wobei gleichzeitig die Voraussetzung für eine Targeted Muscle Reinnervation geschaffen wurde. Bei einer elektroneuromyographischen Untersuchung vom September 2016 wurden die «neu geschaffenen» Targetpunkte analysiert. Zusammenfassend liessen sich nach der Operation für die Nn. radialis, ulnaris und medianus selektive Ansteuerungen aller Zielmuskeln nachweisen. Somit bestanden die Voraussetzungen für eine bionische Armprothese.

Im März 2017 lehnte die Suva die Kostenübernahme für die geplante TMR-Prothese jedoch ab, basierend auf einer externen Expertenempfehlung. Diese hatte eine Versorgung mit einer TMR-Prothese in der Schweiz als nicht realisierbar erachtet und angemahnt, dass zudem die hohen Kosten dieser Versorgung «nicht einfach und wirtschaftlich wären.» Hingegen wurde für die neue Unterschenkelprothese eine Kostengutsprache erteilt. 

Trotz formeller Ablehnung der Kostengutsprache für die TMR-Prothese wurde beim Versicherten 2018 in Wien ein Assessment mit TMR-Test durchgeführt und es gelang, fünf der sechs «Hotspots» am Oberarmstumpf zu lokalisieren. Die erfolgreiche Signaltrennung, also das isolierte Ansteuern der fünf Elektroden mit den dazugehörigen Prothesenfunktionen, ermöglichte dem Versicherten, die Prothesenfunktionen gedanklich-intuitiv zuverlässig anzusteuern.

Vor seinem Unfall war der Versicherte als gelernter Betriebsmaler tätig. Als nach langer Rehabilitationsphase klar wurde, dass er nicht mehr in seinen angestammten Beruf zurückkehren konnte, wagte er 2018 eine berufliche Neuorientierung mit einer Ausbildung zum Fahrlehrer, einschliesslich einer Zusatzausbildung zum Fahrlehrer für Personen mit körperlichen Einschränkungen. Unterstützt durch das Jobcoaching der Rehaklinik Bellikon absolvierte er die Module zum Fahrlehrer, auch wenn die Ausbildung aufgrund von Operationen am Femur, multiplen Prothesenanpassungen an Oberarm oder Unterschenkel mehrfach unterbrochen wurde.

Ein weiteres ergotherapeutisches Assessment in der Rehaklinik Bellikon im Januar 2020 bestätigte den Geschädigten erneut als sehr geeigneten Kandidaten für die Versorgung des Oberarms mit einer TMR-Prothese, betonte gleichzeitig die Notwendigkeit, für den Versicherten ein spezialisiertes Therapiezentrum in der Schweiz zu finden, damit er dort einen optimalen Prothesengebrauch erlernen könnte. Zusätzlich äusserte der Ergotherapeut Bedenken über die Wartungsmöglichkeiten (Service) der Prothese in der Schweiz. Nach ärztlicher Prüfung und nicht zuletzt aufgrund des überaus erfolgreichen Assessments wurde letztendlich die Kostenübernahme für die bionische Prothese empfohlen und seitens der Heilkostenabteilung die Kostengutsprache als Einzelfallentscheid ohne Präjudiz erteilt. 

Im Juni 2022 stellte sich der Versicherte zuletzt bei der Suva Versicherungsmedizin vor. Mit den Prothesen sei er soweit zufrieden, beide seien passgerecht. Noch seien Nachbesserungsarbeiten erforderlich, bis am Arm ein endgültiger Schaft hergestellt werden könne. Im Rahmen der Untersuchung legte er die mitgebrachte Oberarmprothese an und demonstrierte die ihm möglichen Funktionen, was ihm recht flüssig gelang. Über voreingestellte Funktionen einer Handy-App konnte er sogar diverse Greifmöglichkeiten der Hand vorführen und einige Gesten zum Ausdruck zu bringen. 

Insgesamt zeigte der Versicherten gute Fortschritte im Umgang mit der Oberarmprothese. Unverändert besteht gutes Potential, um durch selbstständiges Signal- und Prothesentraining begleitet von intermittierenden Kontrollen und Feedback durch die Therapeuten die Funktionen weiter zu verbessern. Und nachdem der Versicherte die Fahrlehrerprüfung nun erfolgreich abgeschlossen hat, ist er hochmotiviert, die Übungen weiter zu intensivieren.

Korrespondenzadresse

Dr. med. Thomas Meier
Suva Versicherungsmedizin

Literaturverzeichnis

  1. Braatz F, Ernst J, Andres E, Felmerer G. Was gibt es Neues in der (myoelektrischen) Prothetik? In: Was gibt es Neues in der Chirurgie? Jahresband 2018. Hrg: Jähne J, Königsrainer A, Schröder W, Südkamp NP. eBook. ecomed MEDIZIN, Landsberg am Lech 2018, p. 285-290. 
  2.  Kuiken TA., Li G, Lock BA, et al. Targeted Muscle Reinnervation for Real-Time Myoelectric Control of Multifunction Artificial Arms, JAMA. 2009; 301(6): 619–628.
  3. Kuiken TA, Dumanian GA, Lipschutz RD, et al. The use of targeted muscle reinnervation for improved myoelectric prosthesis control in a bilateral shoulder disarticulation amputee. Prosthet Orthot Int. 2004; 28(3):245-53.
  4. Aszmann OC, Dietl H, Frey M. Selective nerve transfers to improve the control of myoelectrical arm prostheses. Handchir Mikrochir Plast Chir. 2008; 40(1):60-5.
  5. Salminger S, Mayer JA, Sturma A, et al. Prosthetic reconstruction of the upper extremity. Unfallchirurg. 2016;119(5):408-13.
  6. Souza JM, Cheesborough JE, Ko JH, et al. Targeted muscle reinnervation: a novel approach to postamputation neuroma pain. Clin Orthop Relat Res. 2014; 472(10):2984-90.

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