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15. Dezember 2023 | von Regina Kunz

Cochrane Corner: Spinal Cord Stimulation bei chronischen Rückenschmerzen

Trotz zahlreicher randomisierter kontrollierter Studien ist die Wirksamkeit der Rückenmarkstimulation bei chronischen Rückenschmerzen umstritten. Ein aktueller systematischer Review aus der Cochrane Collaboration ordnet die Evidenz ein. Ein Evidenzbericht.

Inhalt

      Prof. Dr. Regina Kunz, Suva Versicherungsmedizin
      Peter Alexander Bülow, Suva Versicherungsmedizin
      Dr. Holger Schmidt, Suva Versicherungsmedizin

      Der Fall: Ein Bauarbeiter mit chronischen Schmerzen nach Trauma

      Marco Steiner, ein 55-jähriger Bauarbeiter, hatte vor 3 Jahren auf einer Baustelle einen schweren Sturz, bei dem es zur Fraktur des 5. Lendenwirbelkörpers kam. Deshalb musste Marco Steiner zeitnah operativ versorgt werden. Trotz intensiver Reha blieben chronische Rückenschmerzen mit ausstrahlenden Schmerzen ins Bein und erhebliche schmerzbedingte Einschränkungen. Auch durch die Behandlung mit stärkeren Analgetika, phasenweise auch Morphinderivaten, und trizyklischen Antidepressiva sowie konservativen Massnahmen wie Akupunktur und transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS), konnten die Schmerzen nicht ausreichend gelindert werden. Nach zwei Arbeitsversuchen war klar, dass Marco Steiner unter diesen Umständen nicht auf die Baustelle zurückkehren konnte. Er wurde als arbeitsunfähig beurteilt.  

      Zur Intensivierung der Behandlung stellte der betreuende Schmerztherapeut bei der Unfallversicherung einen Antrag auf Kostenübernahme einer Schmerzbehandlung mit epiduraler Rückenmarkstimulation (Spinal Cord Stimulation, SCS). Die Versicherungsmedi- zinerin prüfte die Evidenzlage zur Wirksamkeit von Rückenmarkstimulation anhand von evidenzbasierten Leitlinien, systematischen Reviews und, falls solche fehlten, anhand von Primärstudien. Neben der Schmerzreduktion sollten in den Studien auch Ergebnisse von anderen patientenrelevanten Zielen wie Funktionalität, Lebensqualität, Erhaltung von sozialen Aktivitäten oder Erhalt bzw. Wiedererlangen der Arbeitsfähigkeit vorliegen (1). 

      Hintergrund

      Chronische Schmerzen in der Lendenwirbelsäule (LWS) – mit oder ohne vorangegangenem Unfall, mit oder ohne vorangegangenen Operationen an der LWS, mit oder ohne Ausstrahlung ins Bein – können neuropathischer Natur sein. Häufig bleibt die Ätiologie (Ursache) unklar. Trotz eines breiten Spektrums von analgetischen (Nicht-Opioide und Opioide) und adjuvanten Medikamenten (Antidepressiva, Antiepileptika, Cannabinoide, Muskelrelaxantien etc.), nicht-pharmakologischen Massnahmen (kognitive Verhaltenstherapie, Hypnose, Akupunktur, TENS) oder diversen Methoden der Physiotherapie sind diese Schmerzen schwierig zu behandeln. Rund 30 % der betroffenen Patientinnen und Patienten sind unzureichend versorgt.  

      Bei der SCS stimulieren Elektroden das Rückenmark im Epiduralraum auf Höhe der vermuteten Schmerzquelle. Elektrische Impulse lösen dabei sympatholytische und andere neuromodulatorische Wirkungen aus. Anzahl und Art der Elektroden sowie Art der Stimulations-Parameter können bei den gängigen Stimulatoren variieren. Rückenmarkstimulatoren werden vielfach empfohlen, wenn Patientinnen und Patienten die Schmerzen trotz konservativer Therapie als unerträglich empfinden und schmerzbedingt in vielen Dimensionen eingeschränkt sind.  

      Inwieweit sich der Schmerz unter Rückenmarkstimulation bessert, ist trotz zahlreicher randomisierter Studien nicht überzeugend belegt. Eine methodisch robuste Durchführung solcher Studien ist nicht unmöglich, aber anspruchsvoll. Dies könnte ein wesentlicher Grund dafür sein, dass ein belastbarer Vergleich zur Wirksamkeit der Rückenmarkstimulation gegenüber Placebo (Scheinstimulation) oder intensiver medizinischer Behandlung so lange nicht durchgeführt wurde. 

      Die Evidenz

      In dieser Situation prüfte eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die vorhandene wissenschaftliche Evidenz mit einem Cochrane Review (2). Der Review analysierte 13 randomisierte kontrollierte Studien mit 699 Teilnehmenden und verglich die Behandlung von Schmerzen im LWS-Bereich mit Rückenmarkstimulation gegen eine Placebo-Behandlung oder gegen keine Behandlung. Die Beobachtungsdauer lag zwischen 3 und 12 Monaten. 

      Damit Schmerzstudien belastbare Ergebnisse liefern, müssen im Design bestimmte Methoden eingebaut werden, z. B. die Verblindung von Ärztinnen und Ärzten, Patientinnen und Patienten sowie Fachpersonen, die das Behandlungsergebnis beurteilen. Diese Methoden sollen beispielsweise vor der suggestiven Wirkung von Erwartungen an die Schmerzlinderung schützen. Darüber hinaus wird das Einhalten weiterer methodischer Standards bewertet, z. B. Berücksichtigung aller Patientinnen und Patienten in den Ergebnissen oder die Verwendung angemessener statistischer Methoden bei Cross-Over-Studien. Der angemessene Einsatz solcher Methoden begründet die Vertrauenswürdigkeit der Ergebnisse.  

      Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kamen nach der Prüfung zu dem Schluss, dass die Rückenmarkstimulation zur Behandlung von Schmerzen im LWS-Bereich nicht besser wirkt als ein Placebo und bei den Patientinnen und Patienten wahrscheinlich nur zu einer geringen bis gar keinen Schmerzlinderung, zu keiner Verbesserung ihrer Funktionalität oder ihrer Lebensqualität führen würde (3). Aufgrund der eingesetzten Methoden zum Schutz vor Fehlschlüssen beurteilten die Autorinnen und Autoren die Vertrauenswürdigkeit der Ergebnisse als moderat (auf einer vierstufigen Skala: hoch – moderat – niedrig - sehr niedrig). Diese Einschätzung legt nahe, dass das Ergebnis dem wahren Behandlungseffekt nahekommt.  

      Ähnliche Ergebnisse ergab der Vergleich von Rückenmarkstimulation plus konservative (nicht-invasive) Behandlung versus alleinige konservative (nicht-invasive) Behandlung: Auch hier fanden sich durch die Rückenmarkstimulation nur geringe oder keine klinisch relevanten Verbesserungen bezüglich der Rückenschmerzen, ausstrahlender Schmerzen ins Bein, Funktionalität oder gesundheitsbezogener Lebensqualität. Dabei waren die im Studiendesign eingesetzten Methoden zum Schutz vor Fehlschlüssen so unzureichend, dass die Vertrauenswürdigkeit der Ergebnisse als niedrig bis sehr niedrig eingestuft wurde.  

      Bezüglich Risiken, Nebenwirkungen und möglicher Schädigungen der Patientinnen und Patienten lieferten die Studien nur unzureichende Informationen.

      Schlussfolgerung und Auflösung des Falls

      Der aktuelle Review unterstützt nicht die Anwendung der Rückenmarkstimulation zur Behandlung von Menschen mit chronischen Rückenschmerzen ausserhalb von klinischen Studien. Die aktuelle Datenlage legt nahe, dass die Rückenmarkstimulation wahrscheinlich keinen nachhaltigen klinischen Nutzen hat, der Kosten und Risiken dieses Eingriffs rechtfertigt. 

      Angesichts der vorliegenden Evidenzlage ist die Versicherungsmedizinerin über die Wirksamkeit von SCS im Vergleich zu Placebo oder in Kombination mit weiterer, konservativer Behandlung bei Patientinnen und Patienten mit chronischen Rücken- schmerzen mit Verdacht auf neuropathischer Komponente nicht überzeugt. Sie entscheidet sich dagegen, die Kostenübernahme zu empfehlen. Hingegen empfiehlt sie, die konservative Behandlung zu prüfen, z. B. durch Blutspiegelmessung essenzieller Medikamente wie Pregabalin, und ggf. mit einem kontrollierten konservativen Therapieversuch und regelmässiger Dokumentation mittels Schmerztagebuch zu intensivieren. Ob nach der erfolglosen Durchführung einer optimalen, ausreichend langen, konservativen Therapie ein Behandlungsversuch mit Rückenmarkstimulation durchgeführt werden soll, ist nach eingehender Beratung und Aufklärung mit dem Patienten gemeinsam zu entscheiden.  

      Korrespondenzadresse

      Prof. Dr. Regina Kunz
      Suva Versicherungsmedizin
      Fluhmattstrasse 1
      6001 Luzern

      Literaturverzeichnis

      1. Dworkin RH, Turk DC, Farrar JT, Haythornthwaite JA, Jensen M., Katz NP, et al. Core outcome measures for chronic pain clinical trials: IMMPACT recommendations. Pain. 2005;113:9-19.
      2. Traeger A, Gilbert SE, Harris IA, Maher CG. Spinal cord stimulation for low back pain. 2023 Mar 7;3(3):CD014789. https://doi.org/10.1002/14651858.CD014789.pub2  (Open Access in der Schweiz).
      3. Hara S, Andresen H, Solheim O, Carlsen SM, Sundstrøm T. et al. Effect of Spinal Cord Burst Stimulation vs Placebo Stimulation on Disability in Patients With Chronic Radicular Pain After Lumbar Spine Surgery. A Randomized Clinical Trial. JAMA. 2022;328(15):1506-1514. doi:10.1001/jama.2022.18231.

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