Orginal, Horner Syndrom Suva Medical Artikel 2, 2022 4:3 Zuschnitt von Asset 53271
30. Juni 2023 | von Tobias Brandt, Stefan Engelter, Caspar Grond-Ginsbach, Sven Haller, Stefan Scholz

Unfallbedingte zervikale Arterienverletzungen

Innere Gefässverletzungen werden häufig erst mit Verspätung klinisch und diagnostisch gesichert. Zervikale Arterieneinrisse (Dissektionen) stehen dabei epidemiologisch und klinisch im Vordergrund. Diese können versicherungsmedizinisch und ökonomisch grosse Tragweite erlangen.

Inhalt

      PD Dr. med. Tobias Brandt, Teamleiter Versicherungsmedizin, Suva
      Prof. Dr. Stefan Engelter, Neurologie und Neurorehabilitation, Universitäre Altersmedizin FELIX PLATTER, Neurologie und Stroke Center Universitätsspital, Basel 
      PD Dr. rer. nat. Caspar Grond-Ginsbach, Klinik für Gefässchirurgie und endovaskuläre Chirurgie, Universitätsklinikum Heidelberg 
      Prof. Dr. Sven Haller, Imagerie rive droite, Genf 
      Dr. Stefan Scholz, Data Scientist SSUV, Suva Versicherungstechnik

      Einführung

      Tobias Brandt
      Innere Gefässverletzungen werden im Gegensatz zu äusseren häufig erst mit Verspätung klinisch und diagnostisch gesichert. Zervikale Arteriendissektionen stehen dabei epidemiologisch und klinisch im Vordergrund. Schwerpunktthema dieses Beitrags sind die Dissektionen der hirnversorgenden Arterien (CAD). Diese können versicherungsmedizinisch und ökonomisch grosse Tragweite erlangen, da die potenziell schweren Komplikationen einer Hirnischämie oft erst mit einer Verzögerung von einigen Tagen bis Wochen auftreten. Bei direktem Kopf- oder Nackenanpralltrauma, aber auch bei Distorsionen der Halswirbelsäule mit oder ohne knöcherne Verletzungen ist es daher besonders wichtig im Rahmen der Erstversorgung sowie zur Schlaganfallprävention in der Notambulanz, rasch eine Gefässdiagnostik durchzuführen. Dies erfolgt mittels Ultraschall und/oder Computertomographie mit Angiographie (CTA) und ermöglicht aufgrund von Flussprofilveränderungen oder direkter Darstellung eines dissezierten Gefässabschnitts sofort und mit hoher Sicherheit die Verdachtsdiagnose einer zervikalen Arteriendissektion. Bestätigt wird die Diagnose in der Regel kernspintomographisch mit dem Nachweis eines Wandhämatoms. Bei typischen klinisch-neurologischen Symptomen, klinischen Zeichen mit Horner-Syndrom und gut lokalisierten, zumeist einseitig lateralen reissenden Nackenschmerzen sollte frühzeitig an eine derartige Gefässverletzung gedacht werden. Entsprechend ist ein Neurologe oder eine Neurologin beizuziehen.  

      Beim Grossteil der zervikalen Dissektionen handelt es sich jedoch um sogenannte spontane Dissektionen. Hier haben Warnsymptome und/oder neurologische Defizite keinen erkennbaren unfallbedingten Auslöser, der unmittelbar zur Spitaleinweisung führte. Jedoch lassen sich in bis zu 40 % dieser Fälle mechanische Alltagseinwirkungen, z. B. durch Sport, als mögliche auslösende Faktoren feststellen [1−3] (s. Abschnitt der Unfallversicherungsstatistik der SSUV). Spezifische versicherungsmedizinische Fragestellungen in Hinblick auf die gutachterlichen Kriterien für spontane und traumatisch bedingte zervikale Dissektionen werden in einem gesonderten Beitrag abgehandelt. 

      Häufigkeit, Klinik, Pathogenese und Diagnose von Dissektionen der Halsarterien

      Stefan Engelter und Sven Haller 
      Die Dissektion der Halsschlagadern, konkret der extrakraniellen Arteria carotis interna bzw. der Arteria vertebralis, ist eine der häufigsten Ursachen eines Schlaganfalls im jüngeren und mittleren Erwachsenenalter. Die Häufigkeit beträgt ca. 2−3 Fälle pro 100 000 Einwohner pro Jahr. Dabei ist die Arteria carotis interna doppelt so häufig betroffen wie die Arteria vertebralis. Männer sind etwas häufiger betroffen als Frauen. Frauen sind bei Auftreten einer Dissektion im Schnitt etwa fünf Jahre jünger als Männer. Die Ursachen hierfür sind nicht bekannt [1−4]. 

      Pathophysiologisch kommt es zu einem Gefässeinriss mit Einblutung in die Gefässwand, seltener zur Ruptur der Vasa vasorum. Klassischerweise tritt die Dissektion der Arteria carotis interna einige Zentimeter oberhalb der Bifurkation auf. Bei der Arteria vertebralis sind die Segmente V2 oder V3 – d. h. die Pars intervertebralia bzw. der Atlasbogen − am häufigsten betroffen.   

      Klinik der Dissektion der A. carotis interna oder A. vertebralis Bild 1 DE.tif

      Abbildung 1
      Klinik der DIssektion der A. carotis interna oder A. vertebralis

      Klinisch imponiert eine Trias (Abbildung 1), die jedoch häufig inkomplett ist. Diese Trias besteht einmal aus Schmerzen im Halsbereich, die sich entlang des Verlaufs der betroffenen Arterie in den Kopf ausbreiten können und durch die Einblutung in die Gefässwand bedingt sind. Zusätzlich kann es durch die Dehnung des sympathischen Nervengeflechts, das die Gefässwand der Arteria carotis umgibt, zu einem Horner-Syndrom kommen. Dieses ist gekennzeichnet durch eine Ptose, eine Miose und einen Enophthalmus (engere Lidspalte). Zusätzlich kann auch eine Beeinträchtigung der kaudalen Hirnnerven (vor allem des 12. Hirnnerven) resultieren. Die Schmerzsymptomatik, die Hirnnervenparese und das Horner-Syndrom gelten als Lokalsymptome. Der dritte Komplex der Trias besteht in zerebralen Ischämien, also einer transitorischen ischämischen Attacke (TIA) oder einem Schlaganfall. Pathophysiologisch ist davon auszugehen, dass der initiale Gefässeinriss zu einer lokalen Bildung von Thromben führt. Diese können sich ablösen, mit dem Blutstrom nach intrakraniell wandern und im Sinne einer Thromboembolie zu einem intrakraniellen Gefässverschluss führen (Abbildung 2). 

      Dissektion Bild 3.tif

      Abbildung 2
      27-Jährige mit Carotisdissektion: Initiale MR-Bildgebung mit hyperintensem Signal in den axialen T1w-Sequenzen (Black Blood) (A) entsprechend einer subakuten Dissektion mit Methämoglobin. Die koronare MR-Angiographie (B) zeigt ein sog. Pseudo-Aneurysma mit moderater distaler Stenose. Die Kontroll-MR-Angiographie (C) nach einem Jahr zeigt eine komplette Rekanalisation 

      Bei der Entstehung der Dissektion ist in den meisten Fällen von einer polyfaktoriellen Genese auszugehen. Diese umfasst Umgebungsfaktoren, vor allem äussere mechanische Einwirkungen auf die Arterie wie Traumata, aber auch Infektionen bzw. entzündliche Prozesse. Genetische Faktoren können ebenfalls eine Rolle spielen, im Sinne einer erhöhten Fragilität der Arterien, die gelegentlich mit Bindegewebserkrankungen assoziiert ist (Abbildung 3). 

      Pathogenese Bild 2 DE.tif

      Abbildung 3
      Pathogenese der Dissektion hirnversorgender Arterien

      Ein Trauma wird bei 40 % der Patienten berichtet. Dies wird beschrieben als plötzliche Gewalteinwirkung im Kopf-Hals-Bereich, für die ein zeitlicher Zusammenhang (4 Wochen) mit dem Ereignis angegeben wird [3]. Da die allermeisten (95 %) dieser als Trauma bezeichneten Einwirkungen relativ milde sind und sich die Betroffenen nicht in medizinische Behandlung begeben, ist wahrscheinlich korrekter von mechanischen Auslösern zu sprechen. Dies wird durch die Beobachtung gestützt, dass auch 20 % von befragten gesunden Personen gleichartige «Traumata» im vergangenen Monat angegeben haben. Die Diagnose wird klinisch vermutet und durch eine Gefässdarstellung verifiziert [2]. Die höchste Sensitivität und Spezifität besitzt das MRI mit fettgesättigten T1-Sequenzen (Abbildung 2) und dem Nachweis einer Signalanhebung in der Arterienwand, was dem oben beschriebenen Wandhämatom entspricht. In den ersten Tagen kann die Darstellung des Wandhämatoms im MRI jedoch falsch negativ ausfallen. Aus diesem Grund ist in diesem Zeitraum die Neuroduplexsonographie von hoher Bedeutung, da das Wandhämatom neurosonographisch früh mit hoher Spezifität nachweisbar ist (Abbildung 4). Zum Nachweis – und auch zur Verlaufsbeurteilung − der Dissektionen ist die Neurosonographie somit gut geeignet. Zum Ausschluss einer Dissektion eignet sie sich dagegen weniger, aufgrund ihrer deutlich geringeren Sensitivität. Auch die CTA wird als Nachweismethode angewandt, ist jedoch in ihrer Aussagekraft dem MRI unterlegen [2, 4, 5]. 

      Neurodplexsonographie Bild 4 DE.tif

      Abbildung 4
      Neuroduplexsonographie einer Dissektion der A. carotis interna

      Mögliche Prädispositionen zu zervikalen Arteriendissektionen

      Caspar Grond-Ginsbach und Tobias Brandt 
      Bei etwa 10−20 % der Patienten, die vor dem 45. Lebensjahr einen Schlaganfall erleiden, werden Dissektionen der Carotis- oder Vertebralis-Arterie als Ursache gefunden. Warum bei diesen Patienten die Dissektionen aufgetreten sind, bleibt in der Regel ungeklärt. Manche Dissektion mag sich kurz nach einem Sturz beim Skilaufen oder einer Behandlung beim Chiropraktiker ereignet haben. Die Mehrzahl der Dissektionen tritt jedoch «spontan» auf − ohne mechanische Auslöser oder erkennbares Trauma [1−4]. 

      Patienten mit einer zervikalen Dissektion sind also in der Regel jünger und zeigen nur selten ein ausgeprägtes vaskuläres Risikoprofil, sodass die Dissektion fast immer unerwartet auftrat. Ein Schlaganfall oder eine akute Gefässerkrankung mit signifikantem Schlaganfallrisiko ist für die meisten Patienten ein einschneidendes Erlebnis, das viele Fragen aufwirft − unter anderem, ob eine angeborene Bindegewebsschwäche der Gefässwände vorliegen könnte, ob in der Zukunft mit wiederholten Dissektionen zu rechnen ist und ob bei Blutsverwandten (Kindern, Geschwistern) ebenfalls ein erhöhtes Schlaganfallrisiko besteht. 

      Andererseits ist bekannt, dass Gefässdissektionen mit hereditären Bindegewebs- erkrankungen, z. B. einem Ehlers-Danlos-, dem Marfan-Syndrom oder einer Osteogenesis imperfecta, assoziiert sein können. Der entsprechende Anteil beträgt maximal 1−4 % [2, 4]. Solche Patienten fallen in der Regel jedoch bereits klinisch auf, u. a. durch die Zeichen einer Bindegewebsstörung bei überstreckbaren Handgelenken, einer dünnen Haut respektive einer leichten Hämatombildung.  

      In verschiedenen Forschungsarbeiten konnten wir elektronenmikroskopisch nachweisen, dass dermale strukturelle Bindegewebsanomalien bei mindestens der Hälfte aller von einer zervikalen Arteriendissektion Betroffenen vorzufinden waren, wobei dieser Phänotyp auch bei nicht betroffenen Familienangehörigen nachgewiesen werden konnte [6]. In den selten möglichen direkten Gefässuntersuchungen bei Betroffenen wurden in allen Gefässpräparaten strukturelle vaskuläre Bindegewebsanomalien nachgewiesen [7] (Abbildung 5). Das histopathologische Bild der Gefässwandalterationen entsprach dabei dem einer sogenannten zystischen Media-Degeneration mit Verlust und Fragmentierung der elastischen Fasern, dem Verlust glatter Muskelzellen sowie einer erhöhten Proteoglycan-Synthese [7]. Es gelang hier jedoch nicht, eine lineare Korrelation des Dissektions-Rezidivrisikos zu Bindegewebsanomalien zu etablieren, insbesondere nicht zum Schweregrad der Bindegewebsanomalien [8]: In einer Langzeituntersuchung war das Rezidivrisiko im ersten Monat nach Erstmanifestation akkumuliert, das Langzeitrisiko mit ca. 8 % (17/221 Fälle) dagegen eher gering, bei einer Nachbeobachtungszeit von durchschnittlich fünf Jahren [8]. 

      CAD Bild 5 DE.tif

      Abbildung. 5Gefässwandmorphologie bei zervikalen Dissektionen (ACI = A. carotis interna): Histopathologie

      Der elektronenmikroskopische Nachweis von leicht bis mittelgradig ausgeprägten strukturellen Bindegewebsveränderungen in Hautbiopsien von Patienten mit zervikalen Dissektionen hatte die Vermutung genährt, dass es erbliche Faktoren gibt, die das Risiko für zervikale Dissektionen erhöhen, zumal diese Bindegewebsveränderungen auch in unauffälligen Geschwistern und Kindern vorliegen können [9]. Die Identifizierung solcher genetischen Faktoren hat sich allerdings als schwierig erwiesen, sodass auch heute − nach zwanzig Jahren internationaler genetischer Forschungen an Patienten mit zervikalen Dissektionen – die Ursache der meisten Dissektionen noch immer unklar bleibt. Das kann bei den Patienten teilweise zu einer belastenden Verunsicherung führen. 
      Die genetische Forschung an Patienten mit zervikalen Dissektionen hat sich in verschiedene Richtungen entwickelt: 

      1. Zuerst wurde untersucht, ob bei den betroffenen Patienten vielleicht in vielen Fällen sehr milde Formen bekannter Bindegewebs-Syndrome (wie etwa des Marfan-Syndroms oder des Ehlers-Danlos-Syndroms) vorliegen. Dazu wurden bei Patienten die Gene, bei denen Mutationen als Ursache für das Marfan-Syndrom (FBN1) oder das vaskuläre Ehlers-Danlos-Syndrom (COL3A1) bekannt sind, mittels DNA-Sequenzanalysen auf Mutationen untersucht. Trotz erheblicher Bemühungen verschiedener Arbeitsgruppen konnte nur bei sehr wenigen Patienten eine Mutation eines bekannten Bindegewebssyndroms gefunden werden. Interessanterweise handelte es sich dabei fast immer um sehr junge Patienten mit einer familiären Belastung (erstgradig Verwandte mit einer Dissektion) [10]. Nicht einmal bei Patienten mit multiplen oder rekurrenten Dissektionen wurden Mutationen in Bindegewebs-Genen gefunden [11]. 
      2. Ein zweiter Ansatz war die Suche nach genetischen Risikovarianten für zervikale Dissektionen im Rahmen einer sogenannten genomweiten Assoziationsstudie (GWAS: Genome-wide Association Analysis). Hierbei wird nach Allelen von SNPs (Single Nucleotide Polymorphisms) gesucht, die häufiger bei entsprechenden Patienten vorliegen als bei gesunden Kontrollpersonen. Eine multizentrische GWAS zeigte, dass eine Variante des PHACTR1-Gens und eine Variante des LRP1 Gens mit dem Risiko für Dissektionen vergesellschaftet sind. Der Effekt der gefundenen Varianten ist allerdings gering. Ausserdem sind beide Varianten in der Normalbevölkerung recht häufig [12]. Der Beitrag der identifizierten genetischen Risikovarianten von PHACTR1 und LRP1 zum erhöhten Dissektionsrisiko ist daher nur als gering einzuschätzen. 
      3. Als dritter Ansatz wurde mit den für die GWAS hergestellten DNA-Chips nach seltenen chromosomalen Mikrodeletionen und Mikroduplikationen (sogenannten Copy-Number-Varianten: CNVs) gesucht. Tatsächlich wurden bei Dissektionspatienten deutlich mehr CNVs gefunden, die die Entwicklung des arteriellen Bindegewebes stören, als bei Kontrollpersonen [13]. Allerdings sollte betont werden, dass solche pathogenen CNVs selten sind. Pathogene Mikrodeletionen und Mikroduplikationen, welche die Dissektion erklären, liegen nur bei wenigen Patienten (1−3 %) vor. 

      Insgesamt hat sich somit die molekulare Suche nach pathogenen Genvarianten bei Patienten mit zervikalen Dissektionen als schwierig herausgestellt. Die durchgeführten molekulargenetischen Analysen konnten bei der grossen Mehrzahl der Patienten keine pathologischen Befunde dingfest machen. Zwei klinisch-genetische Studien schliesslich werfen wiederum die Frage auf, ob pathogene genetische Varianten überhaupt häufig zu erwarten sind. In diesen klinisch-genetischen Studien wurde nach einem Schlaganfallereignis bei Geschwistern der Patienten gefragt. Man beobachtete, dass in Familien von Dissektionspatienten weniger Schlaganfallpatienten vorkommen als in Familien von Patienten mit Schlaganfall anderer Ursache [14, 15].  

      Zusammenfassend ist bei zervikalen Arteriendissektion zwar einerseits eine Prädisposition im Sinne einer strukturellen Gefässwandschwäche bei etwa der Hälfte aller Betroffenen wahrscheinlich. Es muss aber zugleich festgestellt werden, dass es angesichts häufig asymptomatischer Familiengenträger keine durchgehende Pathogenität eines erblichen Phänotyps «leichte Bindegewebsschwäche» gibt. Zudem liegt nur sehr selten ein molekulargenetisch eindeutiger pathogener Mutationsnachweis vor.  

      Trotz wahrscheinlicher Prädisposition bleibt daher nach unserer Einschätzung unter versicherungsmedizinisch-neurologischen Gesichtspunkten die Einzelfallbetrachtung massgeblich. Hier lässt sich allenfalls mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ein plausibles mechanisches auslösendes Ereignis feststellen, das in typischem zeitlichem Zusammenhang steht mit dem Auftreten einer Gefässdissektion der hirnversorgenden Arterien respektive der Komplikation eines Schlaganfalls. 

      Unfalldaten traumatischer Gefässverletzungen

      Tobias Brandt und Stefan Scholz  
      Für spontane Dissektionen der zervikalen Arterien kann die jährliche Inzidenz mit gesamthaft etwa 3,6 Fällen, für die A. carotis mit 2,5−3 Fällen und für die Vertebralisarterien mit 1−1,5 Fällen auf 100 000 Einwohner recht gut geschätzt werden [4]. Über die Inzidenz und den klinischen Verlauf von Dissektionen bei gesichertem Zusammenhang mit einem Unfall ist dagegen weniger bekannt. Die Trauma-assoziierte jährliche Inzidenz, einschliesslich der Fälle mit knöchernen Verletzungen der Halswirbelsäule, wurde bislang auf der Grundlage von wenigen und überwiegend älteren Studien als niedrig (maximal 0,5−2 %) eingeschätzt [4]. Die Datenlage bei gesichert traumatischen Dissektionen ist aber noch als rudimentär zu bezeichnen: Zum Beispiel gab es nur eine retrospektive Untersuchung, die neuroradiologisch-morphologische Unterschiede spontaner und traumatischer Dissektionen darstellte [5].  

      Hier publizieren wir erstmals Daten über die Inzidenz und Verteilung von unfallbedingten Gefässverletzungen aus dem Schweizer Unfallregister (SSUV) (Abbildung 6): Jährlich werden insgesamt mehr als 700 000 Unfälle gemäss UVG anerkannt. Eine Auswertung der Sammelstelle für die Statistik der Unfallversicherung (SSUV) über einen Zeitraum von 12 Jahren (2008–2019, Hochrechnung aus der SSUV-Stichprobe) zeigte, dass jährlich rund 900 Unfälle mit Arterienverletzungen erfasst werden. Allerdings fallen hierunter auch Verletzungen durch Milzrisse und Verletzungen der A. radialis und A. ulnaris, welche in dieser Gruppe von Unfällen die Mehrheit bilden. Zerebrovaskuläre Gefässschädigungen treten mit insgesamt 169 Fällen pro Jahr auf: Die Arteriendissektionen im engeren Sinne sind die Verletzungen der A. carotis interna (ICD S15.0) mit 22 Fällen, der A. vertebralis (ICD S15.1) mit 31 Fällen und der Aorta mit 23 Fällen pro Jahr (Abbildung 3). Mit zervikalen Dissektionen assoziiert waren ganz überwiegend Verkehrsunfälle und Freizeitunfälle (ohne Sportunfälle) in je etwa einem Drittel der Fälle. Seltener waren Arbeits- und Sportunfälle, wobei mehr als die Hälfte dieser Sportunfälle mit einem solchen Verletzungsmuster sich in Wintersportarten ereigneten, gefolgt von Bergsport und Fahrzeugrennen. Beim Unfallgeschehen im übrigen Freizeitbereich sind Gewaltanwendungen deutlich überproportional vertreten mit einem Anteil von über 10 %. 

      Dissektionen sind somit zahlenmässig nicht unbedingt sehr häufig. Gesamthaft, d. h. einschliesslich der Verletzungen der Aorta, gehören sie jedoch zu den gefährlichsten Unfallfolgen: Solche Unfälle nahmen in fast jedem zehnten Fall einen tödlichen Ausgang. Jeder dritte derartige Fall zählt gemäss der Statistik der SSUV zu den Schwerstunfällen. 

      Korrespondenzadresse

      Facharzt für Neurologie, FMH
      PD Dr. Tobias Brandt
      Teamleiter Versicherungsmedizin
      Suva
      Piazza del Sole 6
      6501 Bellinzona

      Literaturverzeichnis

      1. Engelter ST, Traenka C, Grond-Ginsbach C et al. Cervical Artery Dissection and Sports. Front Neurol 2021;12:663-830 
      2. Debette S, Leys D. Cervical-artery dissections: predisposing factors, diagnosis, and outcome. Lancet Neurol. 2009;8(7):668-78 
      3. Engelter ST, Grond-Ginsbach C, Metso TM et al. T. Cervical artery dissection: Trauma and other potential mechanical trigger events. Neurology. 2013;80(21):1950-7 
      4. Schievink WI. Spontaneous dissection of the carotid and vertebral arteries. N Engl J Med. 2001;344(12):898-906 
      5. Sporns PB, Niederstadt T, Heindel W et al. Imaging of Spontaneous and Traumatic Cervical Artery Dissection. Clin Neuroradiol. 2019;29(2):269-275 
      6. Brandt T, Orberk E, Weber R et al. Pathogenesis of cervical artery dissections: association with connective tissue abnormalities. Neurology. 2001;57(1):24-30 
      7. Brandt T, Morcher M, Hausser I. Association of cervical artery dissection with connective tissue abnormalities in skin and arteries. Front Neurol Neurosci. 2005;20:16-29 
      8. Kloss M , Grond-Ginsbach C, Ringleb P et al. Recurrence of cervical artery dissection: An underestimated risk. Neurology 2018;90(16): e1372-e1378 
      9. Grond-Ginsbach C, Klima B, Weber R et al. Exclusion mapping of the genetic predisposition for cervical artery dissections by linkage analysis. Ann Neurol. 2002;52(3):359-64. 
      10. Grond-Ginsbach C, Brandt T, Kloss M et al. Next generation sequencing analysis of patients with familial cervical artery dissection. Eur Stroke J. 2017;2(2):137-143 
      11. Traenka C, Kloss M, Strom T et al. Rare genetic variants in patients with cervical artery dissection. Eur Stroke J. 2019;4(4):355-362 
      12. Debette S, Kamatani Y, Metso TM et al. CADISP Group. Common variation in PHACTR1 is associated with susceptibility to cervical artery dissection. Nat Genet. 2015;47(1):78-83 
      13. Grond-Ginsbach C, Chen B, Krawczak M et al. CADISP group. Genetic Imbalance in Patients with Cervical Artery Dissection. Curr Genomics. 2017;18(2):206-213 
      14. Kloss M, Grond-Ginsbach C, Pezzini A et al. Cervical Artery Dissection and Ischemic Stroke Patients (CADISP) Study Group. Stroke in first-degree relatives of patients with cervical artery dissection. Eur J Neurol. 2014;21(8):1102-1107 
      15. Thijs V, Grittner U, Dichgans M et al. Stroke in Fabry Investigators. Family History in Young Patients With Stroke. Stroke. 2015;46(7):1975-8 

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