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29. September 2023 | von Timm Rosburg

Versicherungspsychiatrische Standarddiagnostik in Gutachten zur Arbeitsfähigkeit

Die versicherungsmedizinischen Standarddiagnostik (VSD) erlaubt eine differenzierte Beschreibung von Gesuchstellenden in psychiatrischen Begutachtungen zur Arbeitsfähigkeit. In konsequenter Anwendung würde die VSD erstmalig eine hochwertige Datenbasis für eine dringend benötigte versicherungsmedizinische Forschung schaffen. 

Inhalt

      Timm Rosburg1,2, Gunnar Deuring3,2,Gerhard Ebner4, Valerie Hauch2, Marlon O. Pflueger2,5, Rolf-Dieter Stieglitz6, Pasquale Calabrese5, Beat Schaub7, Thomas Cotar8, Mounira Jabat9, Hennric Jokeit10, Yvonne Bollag11, Ralph Mager5,2
       

      1 Universitätsspital Basel, Departement Klinische Forschung, Abteilung für Klinische Epidemiologie, EbIM Forschung & Bildung, Basel 

      2 Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel, Klinik für Forensik, Basel

      3 Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel, Zentrum für Affektive, Stress- und Schlafstörungen, Basel

      4 Praxis Dr. med. G. Ebner, Swiss Insurance Medicine (SIM), Zürich

      5 Universität Basel, Fakultät für Psychologie, Abteilung für Neuropsychologie und Verhaltensneurologie, Basel 

      6 Universität Basel, Fakultät für Psychologie, Abteilung Klinische Psychologie und Psychiatrie, Basel

      7 Provenio AG, Winterthur

      8 Praxis Am Klusplatz, Zürich

      9 Universität Zürich, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Zürich

      10 Schweizerisches Epilepsie-Zentrum, Zürich

      11 Universitätsspital Basel, asim, Basel

      Einleitung

      Wer in der Schweiz durch anhaltende Gesundheitsprobleme in der Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt ist, kann Anträge auf Leistungen der Invalidenversicherung (IV) oder anderer Leistungserbringer stellen. Die Arbeitsfähigkeit wird dabei häufig durch beauftragte medizinische Gutachterinnen und Gutachter (nachfolgend Gutachter genannt) eingeschätzt, was auch international gängige Praxis ist [1]. Das Ausmass der Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit ist eine kritische Kenngrösse dafür, ob und in welchem Umfang Gesuchstellende diesbezüglich Rentenleistungen erhalten. Bei psychiatrischen Störungsbildern sind es oft Beeinträchtigungen psychosozialer Fähigkeiten, wie der Fähigkeit zur Anpassung an Regeln und Routinen, der Flexibilität und Umstellfähigkeit, oder der Gruppenfähigkeit, die massgeblich zur verminderten Arbeitsfähigkeit beitragen. Die Gutachter haben die schwierige Aufgabe, aus medizinischen Akten, Schilderungen der Versicherten und Eindrücken aus den Gesprächen mit den Versicherten die Arbeitsfähigkeit einzuschätzen. Um diese Form der psychiatrischen Untersuchung zu verbessern und die Präzision, Zuverlässigkeit und Reproduzierbarkeit der Beurteilung zu erhöhen, hat in der Schweiz die Schweizerische Gesellschaft für Versicherungspsychiatrie (SGVP) Leitlinien entwickelt, die grundlegende Prinzipien der Begutachtung und den Aufbau der zu erstellenden Gutachten betreffen [2].

      Trotz solcher Leitlinien hat sich gezeigt, dass die Übereinstimmung von Gutachtern bei der Einschätzung der Arbeitsfähigkeit bzw. Leistungsfähigkeit ein und derselben versicherten Person nicht so gross ist, wie es wünschenswert wäre [3]. In einer Übersichtsarbeit hierzu werden mögliche Gründe diskutiert, warum die Einschätzungen von Gutachtern divergieren können. Dazu gehört beispielsweise, dass sich Gutachter in der Bedeutung unterscheiden, die sie Beobachtungen beimessen [4]. Diese Erklärung verweist auf mehrere, aus unserer Sicht relevante Punkte. Zum Ersten beruht vieles in der Begutachtung auf Beobachtung und weniges auf Messen. So ist es auch nach den Leitlinien Gutachtern prinzipiell selbst überlassen, ob und in welchem Umfang sie psychometrische Verfahren einsetzen und welche Verfahren zum Einsatz kommen. Es gibt in der Begutachtung wenige bis keine routinemässig eingesetzten psychometrischen Instrumente mit Ausnahme des Mini-ICF-APP, der auch in den Leitlinien erwähnt ist. Dieses Instrument wird aber gutachterlich sehr uneinheitlich und subjektiv zur Einschätzung (nicht Messung) von Fähigkeitsbeeinträchti-gungen und Teilhabeeinschränkungen eingesetzt [5]. Der geringe, aber auch heterogene und unsystematische Einsatz psychometrischer Instrumente steht ausserdem in engem Zusammenhang mit einem Mangel an Forschung zu Prognosefaktoren für Arbeitsunfähigkeit in der Versicherungsmedizin, insbesondere im Bereich der Arbeitsfähigkeit. Mithin ist es für Gutachter schwierig, in der Menge vorhandener, oft widersprüchlicher Informationen zu einer versicherten Person bestimmten Einzelinformationen die Bedeutung beizumessen, die diesen nach vorliegender, aber häufig unzureichender Evidenz auch zukäme. 

      Die hier vorgestellte Versicherungsmedizinische Standarddiagnostik (VSD) wird das angesprochene Problem in der individuellen Begutachtung sicherlich nicht auflösen, aber sie soll dazu beitragen, den Gutachtern diagnostische Information zu Versicherten in strukturierter, konziser und metrischer Form zur Verfügung zu stellen. In dieser Weise erhobene Daten stellen eine Grundvoraussetzung zur bislang fehlenden, wissenschaftlichen Bestimmung von Prädiktoren in diesem Bereich dar. Der Grundgedanke der VSD ist einfach: Zusätzlich zur konventionellen Begutachtung, bestehend aus Aktenstudium und klinischem Gespräch, sollen von Versicherten mittels standardisierter, computerisierter Befragung und Testung psychometrische Daten erhoben werden. Diese bilden die Bereiche psychische Gesundheit, Kognition, Persönlichkeit, Resilienz und arbeitsbezogenes Verhalten ab. Standardisiert bedeutet, dass jede versicherte Person unter gleichen Durchführungs-bedingungen dieselben Tests bearbeitet und Fragebögen ausfüllt. Computerisiert bedeutet, dass die Versicherten unter Bereitstellung von möglicher Assistenz diese Tests und Fragebögen am PC selbstständig ausfüllen. Psychometrisch bedeutet, dass bestimmte Eigenschaften wie beispielsweise «beruflicher Ehrgeiz» in ihrer Ausprägung relativ zu einer Norm- oder Vergleichsstichprobe quantifiziert werden. Ein bekanntes Beispiel für eine solche Quantifizierung ist der Intelligenzquotient (IQ). Wichtiges Grundelement bei der Konzeption der VSD war, dass diese auf bereits etablierte Verfahren zurückgreift, wie beispielsweise die Schätzung der prämorbiden Intelligenz [6].

      In der von uns durchgeführten Machbarkeitsstudie wurden die in der VSD gewonnenen Daten zuerst einer Faktorenanalyse unterzogen, um zu prüfen, welche zugrundeliegenden Dimensionen die VSD-Verfahren abdecken. Ein konkretes Beispiel für eine solche Dimension in unserer Studie war Negative Affektivität, in der Eigenschaften wie Tendenz zur Resignation, Ängstlichkeit und Selbstzweifel zusammengefasst wurden. Diese Dimension ist nach allgemeiner klinischer Erfahrung ausgesprochen wichtig. Zum Zweiten verglichen wir die Ausprägung in solchen Dimensionen zwischen Versicherten mit unterschiedlicher verbleibender Restarbeitsfähigkeit. Hierbei wurde auch der Zusammenhang zwischen Einschätzungen von Fähigkeitsbeeinträchtigungen und Teilhabeeinschränkungen durch die Gutachter und den Daten hergestellt, die durch die Testung und Fragebögen an Versicherten erhoben wurden. Die Machbarkeitsstudie sollte den Nutzen und die Validität der VSD für Begutachtungen der Arbeitsfähigkeit evaluieren. 

      Methodik

      Die Grundzüge unseres methodischen Herangehens sind nachfolgend beschrieben. Mehr Informationen inklusive einer detaillierten Beschreibung der Studienteilnehmenden finden Sie in unserer Originalpublikation [7]. Die VSD kam bei insgesamt 153 psychiatrischen Begutachtungen der Arbeitsfähigkeit im Rahmen von IV-Rentenanträgen (n = 97), Gutachten der Suva (n = 5) und Pensionsgutachten (n = 51) zur Anwendung. Diese Begutachtungen fanden in der asim (Universitätsspital Basel), im Praxisnetzwerk Zürich-Winterthur (Praxen von G. Ebner, B. Schaub und T. Cotar) und in der Psychiatrischen Universitätsklinik (PUK) Zürich statt. Für die Versicherten war die Teilnahme an der Studie freiwillig. Seitens der Begutachtungszentren waren zwölf psychiatrische Gutachter beteiligt. Die VSD wurde in zeitlicher Nähe zur psychiatrischen Begutachtung durchgeführt, um sicherzustellen, dass die VSD-Ergebnisse in die Begutachtung einfliessen konnten. Die Studie war durch die Ethikkommission der Nordwest- und Zentralschweiz geprüft und genehmigt worden (EKNZ: 2017-00781).

      Ablauf

      An der Datensammlung innerhalb der VSD waren (a) die Fallführenden bei der Begutach-tungsstelle, (b) die psychiatrischen Gutachter, (c) die Untersuchenden, die die VSD durchführten, und (d) die Versicherten selbst beteiligt. 

      Die Fallführenden trugen in der Hauptsache demografische Daten zusammen, damit diese in systematischer Form vorlagen. Diese Angaben wurden durch die Gutachter ergänzt. Zudem füllten die Gutachter bestimmte Skalen wie die Mini-ICF-APP [5] oder Clinical Global Impressions CGI [8] aus. Damit dokumentierten sie ihre Einschätzungen zu Einschränkungen psychosozialer Funktionen und die Symptomschwere der Versicherten. Die Gutachter dokumentierten auch ihre Einschätzung der verbleibenden Arbeitsfähigkeit der Versicherten in einer den Defiziten der Versicherten angepassten, sogenannten alternativen Tätigkeit. Die verbleibende Arbeitsfähigkeit ist ein zentrales Merkmal für die Bewilligung von Leistungen und diente in unserer Studie als unabhängige Variable. Die Untersuchenden erhoben in Form eines strukturierten Interviews demografische und sozioökonomische Rahmendaten. Darüber hinaus führten sie die kognitiven Tests durch und leiteten die Versicherten bei den elektronischen Fragebögen der VSD an. Sie gaben dabei, wenn nötig, technische Hilfestellung und dokumentierten zudem während der etwa zweistündigen VSD das Verhalten der Versicherten, wie beispielsweise das Bedürfnis nach Pausen oder die Bearbeitungsgeschwindigkeit. Die von den Versicherten ausgefüllten Selbstbeurteilungs-verfahren (Fragebögen wie der Minnesota Multiphasic Personality Inventory MMPI-2-RF oder der Arbeitsbezogenes Verhaltens- und Erlebensmuster, AVEM) [9,10] und die erhobenen Testergebnisse (wie die Erfassung der Zahlenspanne nach der Wechsler Adult Intelligence Scale (WAIS)-IV oder das Montreal Cognitive Assessment MoCA) [11,12] bildeten inhaltlich und vom Umfang her das Herzstück der VSD. Eine komplette Übersicht der zehn eingesetzten psychometrischen Verfahren finden Sie in [7]. 

      VSD-Report

      Einer der Autoren (GD) entwickelte für die VSD eine web-basierte Plattform, die nicht nur die computerisierte Bereitstellung der psychometrischen Verfahren sicherstellte, sondern auch die automatisierte Auswertung der einzelnen Verfahren und die automatisierte Berechnung von z-Werten. Letztere stellen ähnlich wie der IQ eine an einer Normpopulation (oder Vergleichsgruppen) orientierte Quantifizierung des Ergebnisses dar. Dadurch werden insbesondere Defizite schnell augenfällig (Abbildung 1). Die Gutachter erhielten den VSD-Report in dieser graphischen Form für den frei zu würdigenden Einbezug in das psychiatrische Fachgutachten.

      VSD Reporting Tool - SUVA medical DE.TIF

      Auszug aus einem VSD-Report - Auffälligkeiten in der VSD werden durch Datenpunkte/Balken in orangen und roten Bereichen hervorgehoben. Im illustrierten Fall zeigte der Versicherte beispielsweise im AVEM (oben links), dass die angegebene subjektive Wichtigkeit der Arbeit sehr stark ausgeprägt ist (erster Wert im AVEM-Profil), während der Versicherte gleichzeitig nur eine sehr geringe soziale Unterstützung wahrnimmt (letzter Wert im AVEM-Profil).

      Analyse

      In der VSD wurden viele Daten mit deutlich über 100 daraus resultierenden Skalenwerten zusammengetragen. Mit der Faktorenanalyse kam ein Verfahren zur Anwendung, das eine Datenreduktion auf diesen Skalen zugrundeliegende Dimensionen (oder eben Faktoren) zulässt. Die in der VSD erhobenen psychometrischen Daten wurden zwei Faktorenanalysen unterzogen. Eine Faktorenanalyse fasste die von den Gutachtern bearbeiteten Skalen zur Einschätzung der Versicherten zusammen, die zweite die von den Versicherten ausgefüllten Fragebögen und Testdaten. 
      Für die so identifizierten Faktoren wurden in einer anschliessenden Analyse die individuellen Ausprägungen der Versicherten bestimmt (Faktorenwerte) und zwischen Versicherten mit unterschiedlicher verbleibender Arbeitsfähigkeit verglichen. Hierbei wurden die Antragstellenden in drei Gruppen unterteilt: solche mit einer aus Gutachtersicht verbleibenden Arbeitsfähigkeit von weniger als 40 %, von 40 % bis 60 % und mehr als
      60 %. In der Schweiz besteht erst ab einem Invaliditätsgrad von mindestens 40 % ein Anspruch auf eine IV-Rente. Die Einteilung in diese drei Gruppen ähnelt derjenigen aus früheren Studien wie zum Beispiel [13]. Dieser Vergleich beschränkte sich auf Anträge auf IV-Renten, da bei Pensionsgutachten die Bestimmung der verbleibenden Arbeitsfähigkeit anderen Kriterien unterliegt. 

      Resultate

      Von den 153 Studienteilnehmenden stellten 102 einen Antrag auf eine IV-Rente (inklusive fünf verletzungsbezogener Anträge durch die Suva). Die übrigen 51 Gutachten erfolgten im Zusammenhang mit Pensionsgutachten. 

      Faktorenanalyse

      Die Faktorenanalysen wurden mit den Daten aller Studienteilnehmenden durchgeführt. Die Faktorenanalyse der psychiatrischen Beurteilungen zu Beeinträchtigungen psychosozialer Fähigkeiten und Symptomschwere der Versicherten zeigte einen Generalfaktor, der mit fast allen Subskalen bzw. Items der eingeschlossenen Verfahren eine hohe Korrelation zeigte und mithin Beeinträchtigungen psychosozialer Fähigkeiten (FaPsy) widerspiegelte. 

      Aus 103 Skalen der Test- und Fragebogendaten wurden sechs Faktoren (Fa1 bis Fa6) extrahiert, die nach der Sichtung der Ladungsmuster (Korrelation zwischen Faktor und Skalenwert) folgende Bereiche repräsentierten: Negative Affektivität (Fa1), Selbst wahrgenommene Arbeitsfähigkeit (Fa2), Dysfunktionale Verhaltensmuster (Fa3), Arbeitsgedächtnis (Fa4), Kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit (Fa5) und Exzessives Arbeitsengagement (Fa6). 

      Für die Gesamtstichprobe zeigten sich signifikante Korrelationen zwischen dem Faktor Beeinträchtigungen psychosozialer Fähigkeiten (FaPsy) aus den Gutachtereinschätzungen und den aus den Tests und Fragebögen gewonnenen Faktorenwerten. Dabei ragte der Zusammenhang zwischen FaPsy und Negativer Affektivität (Fa1) heraus 
      (r = 0,498, p < 0,001). Insgesamt konnten 35 % der Varianz dieser psychiatrischen Einschätzungen durch die Faktorenwerte (Fa1 bis Fa6) erklärt werden. 

      IV-Antragstellende mit unterschiedlicher verbleibender Arbeitsfähigkeit

      Es gab 37 Antragstellende mit einer verbleibenden (gutachterlich geschätzten) Arbeitsfähigkeit von weniger als 40 %, 37 mit einer verbleibenden Arbeitsfähigkeit zwischen 40 % und 60 % und 28 mit einer verbleibenden Arbeitsfähigkeit von über 60 %. Abbildung 2 zeigt den Vergleich der Faktorenwerte zwischen den drei Gruppen mit unterschiedlicher verbleibender Arbeitsfähigkeit. Stärkere Beeinträchtigungen psychosozialer Fertigkeiten der Versicherten (FaPsy) gemäss Einschätzungen der Gutachter waren signifikant mit einer geringeren verbleibenden Arbeitsfähigkeit assoziiert (F2, 99 = 87,249, p < 0,001), aber auch Negative Affektivität (Fa1) variierte signifikant mit der verbleibenden Arbeitsfähigkeit (F2, 99 = 6,471, p = 0,002). Versicherte mit einer hohen geschätzten Restarbeitsfähigkeit wiesen jeweils die niedrigsten Beeinträchtigungen psychosozialer Fertigkeiten und die niedrigsten Werte in Negativer Affektivität auf. In den anderen Faktoren (Fa2 bis Fa6) unterschieden sich die drei Gruppen hingegen nicht.

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      Die Abbildung 2 illustriert die Unterschiede in den Faktorwerten zwischen Versicherten mit geringer, mittlerer und hoher verbleibender Arbeitsfähigkeit. Versicherte mit guter verbleibender Arbeitsfähigkeit wiesen die wenigsten Einschränkungen der psychosozialen Fähigkeiten (FaPsy) und die geringste Negative Affektivität auf (Fa1). Es fanden sich keine signifikanten Unterschiede für die übrigen Faktoren (Fa2: Selbst wahrgenommene Arbeitsfähigkeit, Fa3: Dysfunktionale Verhaltensmuster, Fa4: Arbeitsgedächtnis, Fa5: Kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit, Fa6: Exzessives Arbeitsengagement).  

      Diskussion

      Wir berichten an dieser Stelle von den Hauptbefunden unserer Machbarkeitsstudie. Einleitend hatten wir das Problem beschrieben, dass unterschiedliche Gutachter für dieselbe versicherte Person zu unterschiedlichen Beurteilungen der Arbeitsfähigkeit kommen können. Dies mag den Anschein erwecken, dass Gutachter nicht nur nach eigenem Ermessen, sondern nach Belieben zu ihren Beurteilungen der Arbeitsfähigkeit kommen könnten. Die hier vorgestellten Daten zeigen nun, dass dies bei den teilnehmenden psychiatrischen Gutachtern nicht der Fall war. Die Beurteilung der verbleibenden Arbeitsfähigkeit hing nicht nur mit den Einschätzungen funktioneller Einschränkungen zusammen, was naheliegend ist, da beides der Sicht der Gutachter entspringt und die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit wesentlich aus funktionellen Einschränkungen der Versicherten ableitbar sein sollte [13]. Es zeigte sich darüber hinaus – und dies ist wesentlich –, dass die Einschätzungen funktioneller Einschränkungen (FaPsy) einen deutlichen Zusammenhang mit psychometrischen Daten (besonders mit dem Faktor Fa1 Negative Affektivität) aufwiesen. Die psychometrischen Daten wurden objektiv erhoben, also ohne Einfluss seitens der Gutachter auf die Daten-erhebung und deren computerisierte Auswertung. Mithin wird hier gezeigt, dass sich die Einschätzungen der verbleibenden Arbeitsfähigkeit in den vorliegenden Begutachtungen fundamental mit objektiven Daten stützen liessen. 

      Allerdings würde auch ein konsequenter Einsatz der VSD nicht vermeiden, dass sich Beurteilungen der Arbeitsfähigkeit bei ein und derselben versicherten Person weiterhin zwischen Gutachtern unterscheiden können. Denn ebenso wie Gutachter ihren Beobach-tungen unterschiedliche Bedeutung beimessen [4], werden sie die Bedeutung eines objektiven Werts, also etwas Gemessenen wie hoher Negativer Affektivität, unterschiedlich beurteilen. Eine Bezugnahme auf objektive Daten bei der Beurteilung der verbleibenden Arbeitsfähigkeit würde jedoch die Bewertung etwaiger Diskrepanzen zwischen Gutachtern bei einer Nach- oder Neubegutachtung erleichtern, weil die Gründe hierfür fassbarer wären. 

      Wichtig ist es an dieser Stelle anzumerken, dass aus den Befunden nicht abgeleitet werden sollte, dass Negative Affektivität grundsätzlich der Faktor ist, der die verbleibende Arbeitsfähigkeit bestimmt. In der untersuchten Stichprobe war Negative Affektivität der Faktor, der zwischen Versicherten mit unterschiedlicher verbleibender Arbeitsfähigkeit unterschied. Im Einzelfall kann aber jede nicht-normhafte Ausprägung in den Bereichen psychische Gesundheit, Kognition, Persönlichkeit, Resilienz und arbeitsbezogenes Verhalten dazu führen, dass Gutachter bei deren Vorliegen die Arbeitsfähigkeit als gemindert ansehen. Dazu gehören beispielsweise auch Dysfunktionale Verhaltensmuster wie ausgeprägtes antisoziales Verhalten und Aggressivität. Betont werden sollte an dieser Stelle auch, dass Veränderungen in der Kognition, wie eine deutliche Verlangsamung der kognitiven Verarbei-tungsgeschwindigkeit, die ebenfalls Grund für eine verminderte Arbeitsfähigkeit sein können, in der Regel Gegenstand einer ausführlicheren neuropsychologischen Begutachtung sein sollten. Die VSD hat weder den Anspruch noch das Potenzial, Letzteres zu ersetzen. Sie kann aber Hinweise auf bestehende Defizite liefern, die andernfalls vielleicht unbemerkt blieben. Gleichzeitig gibt die VSD über spezielle verdeckte Skalen auch wichtige Hinweise auf verzerrtes oder gar manipulatives Antwortverhalten seitens der Versicherten, so dass sich hier die Indikation für eine weiterführende Beschwerdenvalidierung ergeben kann [14]. 

      Da der Schweregrad der aus psychischen Störungen resultierenden Leistungs- und Funktionsdefizite für die Gewährung von Invaliditätsbeihilfen von grösster Bedeutung ist, wird eine zuverlässige Methodik zur psychiatrischen Beurteilung benötigt, um derartige Defizite so genau und so valide wie möglich zu erfassen. Genau hier könnte die VSD einen wesentlichen Beitrag leisten. Mittelbar könnte die VSD damit auch zu einer optimierten Ressourcenallokation bei den Versicherungsträgern wie auch bei den Gutachtern als Auftragnehmern beitragen, zumal die VSD-Befunde in standardisierter, digitaler Form vorliegen. All dies würde damit auch die Transparenz in der Begutachtung von Rentenbegehren für alle Stakeholder erhöhen. Neben intensiveren Forschungsanstren-gungen in diesem Bereich ist aber vor allem die Bereitschaft von Stakeholdern in der Versicherungsmedizin notwendig, solche Änderungen in die Praxis umzusetzen. 

      Finanzierung

      Die Studie wurde in grösseren Teilen von der Suva finanziert. Der Geldgeber hatte keinen Einfluss auf das Studiendesign, die Datenerhebung und -analyse, die Forschungsergebnisse und deren Veröffentlichung.

       

      Verwendete Abkürzungen:
      AVEM: Arbeitsbezogenes Verhaltens- und Erlebensmuster
      IV: Invalidenversicherung 
      VSD: Versicherungsmedizinische Standarddiagnostik



      Originalpublikation: Rosburg T, Deuring G, Ebner G, Hauch V, Pflueger MO, Stieglitz RD, Calabrese P, Schaub B, Cotar T, Jabat M, Jokeit H, Bollag Y, Mager R. Digitally Assisted Standard Diagnostics in Insurance Medicine (DASDIM): psychometric data in psychiatric work disability evaluations. Disabil Rehabil. 2022 Dec 15:1-14  doi: 10.1080/09638288.2022.2151655. Epub ahead of print. PMID: 36523117.

       

      Korrespondenzadresse

      PD Dr. Timm Rosburg
      Abteilung für Klinische Epidemiologie, EbIM Forschung & Bildung, Departement Klinische Forschung, Universitätsspital Basel
      Totengässlein 3
      CH-4051 Basel

      timm.rosburg@usb.ch

      Literaturverzeichnis

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      2. Ebner G, Colomb E, Mager R et al. Qualitätsleitlinien für versicherungspsychiatrische Gutachten. Bern. Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie SGPP. 2016. 
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