benefit_2.25_Marianne Gysi_Herbert_Zimmermann_HR CF893383.jpg

Wiedereingliederung: Aufstehen und weitermachen

Auf der ersten Skitour ihres Lebens verunglückte Marianne Gysi schwer. Nach einer langen Phase der Rehabilitation ist sie heute wieder sportlich unterwegs – und geniesst es, ihren Alltag selbständig zu meistern.

Text: Stefan Joss; Foto: Herbert Zimmermann
27.06.2025
ca. 3 min

Inhalt

Marianne Gysi

«Ich war zur falschen Zeit am falschen Ort», sagt Marianne Gysi über ihren Unfall vom März 2014. Die heute 57-jährige Chamerin sitzt zuhause an ihrem Esstisch. Der rechte Arm fällt sofort auf. Er endet zwischen Schulter und Ellenbogen. «Mein Stummeli» nennt sie diese Stelle fast liebevoll. Erst wenn Marianne Gysi ein paar Schritte geht, erkennt man auch ihre Beinprothese. 

Die letzte Abfahrt

«Wir waren auf einer mehrtägigen Skitour am Mont Blanc», erzählt sie. Am letzten Nachmittag, auf der letzten Abfahrt hätten sie einen Couloir durchquert – einen Durchgang zwischen zwei Felswänden. Plötzlich löste sich ein tonnenschwerer Gesteinsbrocken. Ihr Mann Kusi und die Bergführer mussten mitansehen, wie sie und ein anderer Tourengänger getroffen und in den Tiefschnee gedrückt wurden. 

Langsame Rückkehr ins Leben

Als Marianne Gysi aufwachte, wusste sie noch nicht, dass die andere verunfallte Person noch vor Ort verstorben war. Dass sie sieben Wochen lang im Koma gelegen hatte. Dass ihr der rechte Arm und das rechte Bein amputiert werden mussten. Dass sich ihr Mann und ihre beiden Kinder in dieser Zeit gegenseitig gestützt und getragen hatten. 

Der Weg zurück ins Leben war beschwerlich. «Nach jeder halben Stunde Therapie schlief ich vor Erschöpfung ein. War ich überfordert, musste ich erbrechen.» Ihr Körper signalisierte ihr unmissverständlich: «Du bist noch nicht so weit.» 

Trotzdem erinnert sie sich gerne an ihre Zeit in der Rehaklinik Bellikon. Nach sechs Monaten ging es wieder nach Hause – ein emotionaler Moment. «Eine Physiotherapeutin…» beginnt sie und bricht den Satz ab. «Ich bin eben nahe am Wasser gebaut.» Marianne Gysis Blick schweift in die Ferne. Sie atmet tief ein und aus. «Sie hatte ebenfalls Augenwasser, als ich Bellikon verliess.» 

benefit_2.25_Marianne Gysi_Herbert_Zimmermann_HR CF893427.jpg

Marianne Gysi: «Wenn du heute aufgibst, weisst du nicht, ob du es morgen geschafft hättest.»

Sport als Ventil

Sie sei mit den Skiern an den Füssen zur Welt gekommen. «Mein Vater nahm mich mit auf die Piste, da war ich drei Jahre alt. Ich liebte das Skifahren.» Heute steht sie zwar nicht mehr auf Alpinskiern, dafür aber auf den Langlaufskis. Auch Joggingrunden gehören der Vergangenheit an. Doch der Sport bleibt ihr Lebenselixier.

Sie schwimmt regelmässig und leidenschaftlich gerne – zweimal zwei Kilometer pro Woche. Und zusammen mit ihrem Mann unternimmt sie Tandemtouren. Das Spezialfahrrad ist perfekt auf das Ehepaar zugeschnitten: Er sitzt hinten, sie sitzt vorne. «Trete ich weniger, merkt er es sofort. Doch das tue ich selten», lächelt Gysi, «denn Sport ist mein Ventil. Es erinnert mich daran, dass ich noch da bin.» 

Selbständig sein

Ob Wäsche waschen, Blumen schneiden, duschen oder sich ohne Hilfe anziehen – sie geniesse es, alltägliche Dinge selbständig zu erledigen. Ihr Mann sage ihr oft: «Marianne, du kannst mit einer Hand Wäsche schöner falten als ich mit zwei.» 

In der Küche steht ein Unikat: Ein befreundeter Ingenieur hat eine Maschine entwickelt, mit der sie eine Schüssel mit nur einem Arm fixieren und kippen kann. So lässt sich zum Beispiel Kuchenteig ohne fremde Hilfe in eine Form giessen. «Das Kochen mit einem Arm ist schwierig, aber backen ist eine meiner Leidenschaften.»

Was bedeutet lebenswert?

Marianne Gysi leidet an ihrer verbleibenden Hand an Arthrose. Im Winter seien die Schmerzen besonders stark. Nüchtern bilanziert sie: «Ich habe mir überlegt, ab wann mein Leben nicht mehr lebenswert ist.» Vorsorglich habe sie sich bei der Sterbehilfe-Organisation Exit angemeldet – für den Fall, dass ihre Hand eines Tages nur noch schmerzt. «Ich will nicht einfach daliegen und mich bedienen lassen.»

Aufstehen und weitermachen

Was tut sie, wenn solche dunklen Gedanken aufkommen? Bestimmt, aber freundlich sagt Marianne Gysi: «Das Gleiche, wie an jedem anderen Tag auch: Aufstehen, sich anziehen, weitermachen.» Ein Spruch hätte ihr in den letzten 11 Jahren viel Kraft gegeben: «Wenn du heute aufgibst, weisst du nicht, ob du es morgen geschafft hättest.» 

Finden Sie diese Seite hilfreich?