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15. Dezember 2023 | von Hannjörg Koch

Die Suva forscht

Die Suva engagiert sich für die Bearbeitung von Forschungsfragen mit Bezug zum schweizerischen Sozialversicherungssystem, speziell zum Bundesgesetz über die Unfallversicherung. Die gewonnenen Erkenntnisse fliessen in die Tätigkeit der Suva bei der Umsetzung des gesetzlichen Auftrages ein.

Inhalt

      PD Dr. Hannjörg Koch

      Das Sozialversicherungssystem in der Schweiz

      Das Sozialversicherungsrecht in der Schweiz gliedert sich in elf Sozialversicherungszweige. Dazu gehören unter anderem die Invaliden-, Kranken- und Unfallversicherung. Dass alle in der Schweiz über das Sozialversicherungsrecht versicherten Personen ein Recht auf faire und gleiche Behandlung haben, ist eine Selbstverständlichkeit. Dies ist aus zwei Aspekten von besonderer Bedeutung: Für die Frage, ob Krankheits- oder Unfallfolgen vorliegen (Kausalität) und welcher Kostenträger somit zuständig ist, sowie für die Bewertung, in welchem Ausmass ein Unfallversicherer Leistungen für Unfallfolgen (Invalidenrente oder Integritätsentschädigung) entrichten muss. «Denn das Gesetz erlaubt es weder, Unfallfolgen über Kostenträger der Krankenversicherung zu kompensieren, noch vice versa. Oder, auf den Punkt gebracht, jeder und jede erhält das, was ihm oder ihr zusteht – nicht mehr, aber auch nicht weniger.» [1] 

      Die Versicherungsmedizin hat einen wesentlichen Anteil an der Beantwortung dieser Fragen, indem sie die Rechtsanwendung in ihren Entscheidungen beratend unterstützt. Eine faire und gleiche Behandlung setzt dabei aber eine allgemeine Beurteilungsgrundlage voraus, die sich auf belastbares Wissen stützt. In dem von Riemer-Kafka herausgegebenen interdisziplinären juristisch-medizinischen Leitfaden zu versicherungsmedizinischen Gutachten wird gefordert, die Denk- und Arbeitsweise der evidenzbasierten Medizin anzuwenden [2]. Dieses anerkannte Konzept verlangt den gewissenhaften, ausdrücklichen und vernünftigen Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der individuellen medizinischen Versorgung von Patienten [3]. Somit muss eine Beurteilung, welche die Besonderheiten des Einzelfalls zu berücksichtigen hat, auf wissenschaftlichen Studien und systematisch zusammengetragenen klinischen Erfahrungen basieren. Speziell im versicherungsmedizinischen Kontext ist dies jedoch nicht immer gegeben. Im Gegensatz zu wissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit Grundlagen-forschung oder klinischen Aspekten im Rahmen von Diagnostik und Therapie beschäftigen, ist die Literatur arm an Publikationen mit versicherungsmedizinischem Fokus.  

      Es liegt auf der Hand, dass nur dort Fragen beantwortet werden, wo sie sich stellen. Anders als in der Schweiz treffen bei der Übernahme von Behandlungskosten viele Länder, z. B. die USA, Grossbritannien oder China keine Unterscheidung zwischen Unfall- oder Krankheitsfolgen. Dieser Umstand erklärt vermutlich den Mangel an Studien zu dieser Thematik aus den genannten Ländern. Ausserdem ist die initial auslösende Ursache einer Pathologie auch in der Anwendung von Behandlungsmöglichkeiten, mindestens mittel- bis langfristig, häufig von nachrangiger Bedeutung. Denn aus rein medizinisch wissenschaft-licher Sicht zeigen akute Krankheiten und akute Unfallverletzungen in den dabei ablaufenden Prozessen fliessende Übergänge [1]. Ob ein Gelenkverschleiss Folge einer länger zurückliegenden Verletzung oder das Ergebnis eines langen Lebens ist, lässt sich nicht immer mit Bestimmtheit erkennen, noch ergeben sich daraus in der Regel relevant unterschiedliche Konsequenzen hinsichtlich der Beschwerden der Betroffenen oder deren Behandlung. 

      Valide wissenschaftliche Grundlagen sind auch für weitere Aufgaben der Suva in der Prävention, zur arbeitsmedizinischen Eignungsbeurteilung von Arbeitnehmenden im Rahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge oder in der Evaluation neuer therapeutischer Möglichkeiten mit dem Ziel einer bedarfsgerechten und kostenoptimierten Behandlung erforderlich. Doch damit nicht genug; da die wissenschaftliche Erkenntnis immer im Fluss ist [3], müssen zur Qualitätskontrolle die eigenen Entscheidungsgrundlagen regelmässig überprüft werden.  

      Die Suva sieht sich diesem Anspruch verpflichtet und hat früh erkannt, wie wichtig ein gezieltes Engagement ist. Seit 1968 setzt sie sich für Forschung auf Gebieten ein, die sonst kaum oder wenig bearbeitet werden. Sie betreibt angewandte medizinische Forschung, gibt diese in Auftrag oder fördert sie. Damit leistet die Suva einen Beitrag zum Nutzen aller versicherten Personen in der Schweiz. 

      Dabei liegt ein besonderes Augenmerk darauf, dass nur Forschungsprojekte gefördert werden, die in medizinischer, methodologischer, ethischer und rechtlicher Hinsicht einwandfrei sind und die Mittel der Suva zweckdienlich einsetzen.  

      Die thematischen Schwerpunkte sind

      • Bewegungsapparat 
      • Berufskrankheiten 
      • traumatische Hirnverletzungen 
      • chronische Schmerzen 
      • psychische Unfallfolgen 
      • Amputation (Rehabilitation) 
      • Outcome (Prädiktoren, Rehabilitation) 
      • Gutachtenmethodik 
      • Prävention 

      Folgende Beispiele geben einen Eindruck von der Bandbreite, in der mit Unterstützung der Suva bereits relevante Erkenntnisse gewonnen wurden

      • Der Vergleich neuer mit etablierten chirurgischen Verfahren zur Behandlung von Brüchen des Schlüsselbeins war Gegenstand einer Studie des Kantonsspitals Luzern [4]. 
      • Zu dem arbeitsmedizinisch wichtigen Thema des malignen Pleuramesothelioms nach beruflicher Asbestexposition konnten verschiedene Projekte gefördert werden [5, 6]. 
      • Zu Schädel-Hirn-Verletzungen hat das wissenschaftliche Netzwerk PEBITA «Patient-relevant Endpoints after Brain Injury from Traumatic Accidents» zahlreiche Publikationen veröffentlicht [7-10]. 
      • Eine internationale Multicenter-Studie unter Beteiligung der Universitätsklinik Balgrist beschäftigte sich mit dem nach Verletzung auftretenden komplexen regionalen Schmerzsyndrom CRPS [11]. 
      • Eine versicherungspsychiatrische Standarddiagnostik in Gutachten zur Arbeitsfähigkeit wurde unter Federführung der Universität Basel entwickelt [12]. 
      • Mit der Rolle ärztlicher Grundversorgender in der Behandlung Verletzter hat sich eine Arbeitsgruppe der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW auseinandergesetzt [13]. 
      • Auf dem Gebiet der Gutachtenmethodik wurden von einer weiteren Arbeitsgruppe der ZHAW am Zentrum für öffentliches Wirtschaftsrecht der School of Management and Law Faktoren identifiziert, die die Abklärungsdauer im Schadenfall beeinflussen [14]. 

      Die Suva engagiert sich auch in Zukunft für die Bearbeitung von Forschungsfragen mit einem Bezug zum schweizerischen Sozialversicherungssystem, speziell zum Bundesgesetz über die Unfallversicherung (UVG). Anträge auf Förderung können jeweils bis zum 1. Januar eingereicht werden. Die hierfür notwendigen Unterlagen und weitere Informationen finden sich auf der Webseite «Medizinische Forschung in der Suva».  

      Die Evaluation und Entscheidung über eine Förderung geschieht durch interne Gremien, die sich aus Mitarbeitenden unterschiedlicher Fachdisziplinen zusammensetzen. So ist hier Expertise aus Versicherungsmedizin, Arbeitsmedizin, Rehakliniken, Generalsekretariat, Statistik, Schadenabwicklung, Militärversicherung und den Abteilungen Medizinaltarife, Recht und Informatik gebündelt.  

      Fachkompetente Expertinnen und Experten der Suva stehen den Forschungsgruppen als Sparring Partner bei Fragen zu Inhalt und Methodik zur Verfügung und begleiten die Forschungsprojekte während der Durchführung. Schliesslich wird sichergestellt, dass die gewonnenen Erkenntnisse in die Tätigkeit der Suva bei der Umsetzung des gesetzlichen Auftrages einfliessen, um zu einer bestmöglichen Grundlage für eine faire und gleiche Behandlung der Versicherten beizutragen. 

      Korrespondenzadresse

      PD Dr. med. Hannjörg Koch
      Orthopädische Chirurgie, Suva Versicherungsmedizin

      Literaturverzeichnis

      1. Koch H, Bülow PA. Die versicherungsmedizinische Kausalitätsbeurteilung und ihre Besonderheiten in der schweizerischen Unfallversicherung. Der medizinische Sachverständige. 2022;118(3):110-8. 
      2. Riemer-Kafka G. Versicherungsmedizinische Gutachten : ein interdisziplinärer juristisch-medizinischer Leitfaden. Dritte, vollständig überarbeitete und ergänzte Auflage ed. Bern: Stämpfli Verlag; 2017. 187 Seiten p. 
      3. Sackett DL, Rosenberg WM, Gray JA, Haynes RB, Richardson WS. Evidence based medicine: what it is and what it isn't. BMJ (Clinical research ed). 1996;312(7023):71-2. 
      4. Pastor T, Zderic I, Berk T, Souleiman F, Vögelin E, Beeres FJ, et al. NEW GENERATION OF SUPERIOR SINGLE PLATING VS LOW-PROFILE DUAL MINI-FRAGMENT PLATING IN DIAPHYSEAL CLAVICLE FRACTURES. A BIOMECHANICAL COMPARATIVE STUDY. Journal of shoulder and elbow surgery / American Shoulder and Elbow Surgeons  [et al]. 2023. 
      5. Barbier MC, Fengler A, Pardo E, Bhadhuri A, Meier N, Gautschi O. Cost Effectiveness and Budget Impact of Nivolumab Plus Ipilimumab Versus Platinum Plus Pemetrexed (with and Without Bevacizumab) in Patients with Unresectable Malignant Pleural Mesothelioma in Switzerland. Pharmacoeconomics. 2023;41(12):1641-55. 
      6. Metaxas Y, Rivalland G, Mauti LA, Klingbiel D, Kao S, Schmid S, et al. Pembrolizumab as Palliative Immunotherapy in Malignant Pleural Mesothelioma. Journal of thoracic oncology : official publication of the International Association for the Study of Lung Cancer. 2018;13(11):1784-91. 
      7. von Elm E, Osterwalder JJ, Graber C, Schoettker P, Stocker R, Zangger P, et al. Severe traumatic brain injury in Switzerland - feasibility and first results of a cohort study. Swiss medical weekly. 2008;138(23-24):327-34. 
      8. Pielmaier L, Walder B, Rebetez MM, Maercker A. Post-traumatic stress symptoms in relatives in the first weeks after severe traumatic brain injury. Brain injury : [BI]. 2011;25(3):259-65. 
      9. Walder B, Haller G, Rebetez MM, Delhumeau C, Bottequin E, Schoettker P, et al. Severe traumatic brain injury in a high-income country: an epidemiological study. J Neurotrauma. 2013;30(23):1934-42. 
      10. Tohme S, Delhumeau C, Zuercher M, Haller G, Walder B. Prehospital risk factors of mortality and impaired consciousness after severe traumatic brain injury: an epidemiological study. Scand J Trauma Resusc Emerg Med. 2014;22:1. 
      11. Grieve S, Brunner F, Buckle L, Gobeil F, Hirata H, Iwasaki N, et al. A multi-centre study to explore the feasibility and acceptability of collecting data for complex regional pain syndrome clinical studies using a core measurement set: Study protocol. Musculoskeletal Care. 2019;17(3):249-56. 
      12. Rosburg T, Deuring G, Ebner G, Hauch V, Pflueger MO, Stieglitz R-D, et al. Versicherungspsychiatrische Standarddiagnostik in Gutachten zur Arbeitsfähigkeit. Suva Medical [Internet]. 2023. Erhältlich unter: versicherungspsychiatrische-standarddiagnostik
      13. Höglinger M, Knöfler F, Schaumann-von Stosch R, Scholz-Odermatt SM, Eichler K. Recent trends and variations in general practitioners' involvement in accident care in Switzerland: an analysis of claims data. BMC Fam Pract. 2020;21(1):99. 
      14. Fischer S, Koller D, Wiederkehr R. Medizinische Begutachtungen: Welche Faktoren beeinflussen die Abklärungsdauer? Suva Medical. 2018:20-35. 

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