Ambulant vor stationär? Erste Bilanz im UVG/MVG
«Ambulant wenn möglich, stationär nur wenn nötig» diese Regelung gilt seit 2019. Nun zeigt sich, wie konsequent diese Vorgabe auch in der Unfall- und Militärversicherung umgesetzt wird – es wirkt, aber offenbart auch möglicher Nachholbedarf bei bestimmten Eingriffsgruppen.
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Inhalt
Autorenschaft
Angelina Hofstetter, Zentralstelle für Medizinaltarife UVG, Suva
Ausgangslage
Am 1. Januar 2019 ist die Regelung «ambulant vor stationär» (AvS) des Bundes in Kraft getreten. Seither vergütet die obligatorische Krankenpflegeversicherung bei 6 Eingriffsgruppen im KVG-Bereich (Tabelle I Anhang 1a KLV
Für den Bereich der Unfallversicherung (UVG) und der Militärversicherung (MVG) wurden erste Umsetzungsentscheide bereits 2018 gefällt. Der Vorstand der Medizinaltarif-Kommission UVG (MTK) entschied sich für eine stufenweise Einführung, beginnend mit arthroskopischen Meniskusoperationen. Die Militärversicherung, die sowohl Unfall- als auch Krankheitsereignisse abdeckt, übernahm von Beginn weg die jeweils gültige AvS-Liste des Bundes. Im Dezember 2022 beschloss der MTK-Vorstand, ab dem 1. Januar 2023 ebenfalls die vollständige, schweizweit gültige AvS-Liste zu übernehmen. Damit erfolgte eine Harmonisierung zwischen KVG, UVG und MVG.
Die Auswirkungen der harmonisierten Umsetzung von «ambulant vor stationär» für KVG/UVG/MVG wurden analysiert und nachfolgend zusammengefasst.
Methode
Die Analyse stützt sich auf Daten der Zentralstelle für Medizinaltarife (ZMT-Cockpit) mit einem Deckungsgrad UVG von 80,9 % und MVG von 100 % im Januar 2025. Sie nutzt dieselbe Methodik zur Unterscheidung zwischen ambulant und stationär wie das Monitoring des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan) im KVG-Bereich, beschrieben in dessen Bericht [2]. Bei den Daten im ZMT-Cockpit handelt es sich um Rechnungsdaten der verschiedenen Unfallversicherer und der Militärversicherung.
Kleine Fallzahlen im Bereich UVG/MVG schränkten die Auswertung auf 3 Eingriffsgruppen ein: Kniearthroskopien (ab 2019) sowie Osteosynthesematerialentfernungen (OSME) und handchirurgische Eingriffe (beide ab 2023).
Resultate
Entwicklung im KVG-Bereich (Obsan-Monitoring)
Das Monitoring im KVG-Bereich wird durch das Schweizerische Gesundheitsobservatorium (Obsan) im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit (BAG) durchgeführt. Vier Jahre nach Inkrafttreten der KLV-Änderung (Art. 3c und Anhang 1a KLV) zur Einschränkung der stationären Kostenübernahme bei bestimmten elektiven Eingriffen zeigt sich gemäss Obsan ein klarer Trend:
«Bei allen sechs Gruppen von Eingriffen hat die stationäre Versorgung abgenommen und der Anteil der ambulant durchgeführten Eingriffe ist gestiegen; die Gesamtkosten sind gesunken. Der grösste Rückgang der stationär durchgeführten Eingriffe ist im ersten Jahr nach Einführung der KLV-Regelung erfolgt. Danach bleibt die stationäre Versorgung relativ stabil. Die Erweiterung der Liste in Anhang 1a KLV verstärkt den Trend zur Abnahme der stationären Leistungserbringung. Bei sieben der elf neuen Eingriffsgruppen wurde 2023 ein stärkerer Rückgang beobachtet als jeweils im vorangehenden Vergleichszeitraum 2015–2022.»
Trotz dieser positiven Entwicklung relativiert das Obsan den Effekt der 2023 erweiterten Liste:
«Die Erweiterung der Liste in Anhang 1a KLV 2023 fällt in eine Periode einer starken Zunahme der Anzahl ambulant erbrachter Leistungen. 2023 trägt die beobachtete Verlagerung allerdings nur 13 % zu diesem Wachstum bei. Die übrigen 87 % dieses Wachstums können dem langfristigen Trend der Entwicklung im ambulanten Sektor zugeschrieben werden.»
Die konkreten Veränderungsraten zeigen die abnehmende Dynamik im Zeitverlauf:
- Für die 11 neuen Eingriffsgruppen ergab sich die folgende Veränderung der Leistungserbringung (2023):
o Stationäre Versorgung: - 6 %
o Ambulante Versorgung: + 2 % - Für die ursprünglichen 6 Gruppen ergab sich die folgende Veränderung der Leistungserbringung (ab 2019):
o Stationäre Versorgung: - 38 %
o Ambulante Versorgung: + 20 %
Laut Obsan erklären zwei Hauptgründe die geringe Verlagerungswirkung der erweiterten Liste:
- In 4 Gruppen (Katarakt, Herzuntersuchungen, Handchirurgie, Beschneidung) war die Verlagerung bereits weitgehend erfolgt, mit ambulanten Anteilen von über 90 %.
- 14 Kantone hatten bereits vor 2023 eigene, weitergehende AvS-Listen eingeführt.
Der rückläufige Verlagerungseffekt wird als Indiz dafür gewertet, dass das Verlagerungs-potenzial unter den gegenwärtigen medizinischen und rechtlichen Rahmenbedingungen grösstenteils ausgeschöpft ist.
Gesamtkosten im KVG
Seit 2019 sind die Gesamtkosten für die ursprünglichen 6 Eingriffsgruppen um CHF 9 Mio. zurückgegangen (- 0,6 % p. a.). Im Detail:
- Stationäre Kosten: - 70 Mio. CHF (- 8,1 % p. a.)
- Ambulante Kosten: + 61 Mio. CHF (+ 8,6 % p. a.)
Die Zunahme der ambulanten Kosten ist laut Obsan nicht ausschliesslich auf die Verlagerung zurückzuführen. Sie ist vor allem durch Mengen- und Preiseffekte erklärbar – d. h. die generelle Zunahme ambulant durchgeführter Eingriffe über alle Eingriffsarten hinweg [2].
Entwicklung im UVG/MVG
Kniearthroskopien (Liste ab 01.01.2019)
Verschiebung der Leistungen
Bei beiden Gesetzen ist eine Verschiebung in den ambulanten Bereich festzustellen, insbesondere bis 2020. Danach bleibt die Verteilung im Bereich des KVG konstant. Im Bereich des UVG/MVG kann man dagegen eine leichte (Rück-)Verschiebung in den stationären Bereich feststellen.
Verschiebung der Kosten
Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich logischerweise beim Anteil der Kosten im ambulanten und stationären Bereich: Nach 2020 nehmen die Kosten im stationären Bereich gegenüber dem ambulanten Bereich wieder zu. Der Anstieg ab 2021 ist auf die erwähnte Steigerung der stationären Fälle sowie den Preiseffekt zurückzuführen.
Die Zunahme des durchschnittlichen Kostengewichts pro stationäre Rechnung weist darauf hin, dass die einfacheren Fälle vermehrt ambulant durchgeführt werden. Es gilt der folgende Vorbehalt: Die Systementwicklung der Kostengewichte durch die Tarifstruktur wurde bei der Analyse nicht berücksichtig.
Fallkostenentwicklung
Abbildung 5: Durchschnittliche Kosten pro Rechnungsart (ambulant/stationär) im Vergleich KVG vs. UVG/MVG. (Quelle: Obsan 2025 und ZMT-Cockpit, 31.01.2025)
Die Entwicklung der durchschnittlichen Kosten pro Rechnung sind im KVG und im UVG/MVG sehr ähnlich. Die durchschnittlichen Kosten im UVG/MVG-Bereich sind pro Sektor leicht höher als im KVG. Der Verlauf ist bei allen Gesetzen gleich: Die Kosten pro stationäre Rechnung steigen, pro ambulante Rechnung nehmen sie leicht ab.
Osteosynthesematerialentfernungen (OSME) ab 01.01.2023
Verschiebung der Leistungen
Die Verschiebung der Leistungen vom stationären in den ambulanten Bereich scheint schon vor Einführung der AvS-Liste am 1. Januar 2023 stattgefunden zu haben. Die Anteile im UVG/MVG-Bereich verhalten sich zum KVG-Bereich sehr ähnlich.
Verschiebung der Kosten
Der Anteil der Kosten hat sich leicht in den ambulanten Bereich verschoben. Die Zunahme des durchschnittlichen Kostengewichts pro stationäre Rechnung weist auch hier darauf hin, dass die einfacheren Fälle vermehrt ambulant durchgeführt werden. Es gilt der folgende Vorbehalt: Die Systementwicklung der Kostengewichte durch die Tarifstruktur wurde bei der Analyse nicht berücksichtigt.
Handchirurgische Eingriffe ab 01.01.2023
Verschiebung der Leistungen
Im KVG gibt es eine minime Verschiebung in den ambulanten Bereich. Es wurde jedoch bereits ein Grossteil der handchirurgischen Eingriffe seit Anfang der Analyse und somit vor Einführung der AvS-Liste am 1. Januar 2023 im ambulanten Bereich durchgeführt.
Im Bereich UVG/MVG wird ein viel grösserer Anteil an handchirurgischen Eingriffen im stationären Setting durchgeführt. Diese Entwicklung hat mit den Jahren leicht zugenommen. In der Diskussion sind die möglichen Gründe festgehalten.
Verschiebung der Kosten
Das Kostengewicht im stationären Bereich nimmt bei den handchirurgischen Eingriffen zwar ebenfalls zu, jedoch weniger stark als in den anderen Bereichen. Es gilt der folgende Vorbehalt: Die Systementwicklung der Kostengewichte durch die Tarifstruktur wurde bei der Analyse nicht berücksichtigt.
Die Anteile der Kosten verhalten sich gleich wie die Anteile der Rechnungen pro Sektor.
Anteil stationärer Eintagesaufenthalte
Zusätzlich wurde für den UVG/MVG-Bereich der Anteil an Eintagesaufenthalten im stationären Bereich analysiert, um das ambulante Potenzial abzuschätzen.
Abbildung 14: Anteil an Eintagesaufenthalten im stationären Bereich
Bei den Kniearthroskopien und OSME nehmen die Eintagesaufenhalte stark ab. Es wird vermutet, dass die leichteren Fälle im ambulanten Setting durchgeführt wurden, anstelle eines kurzen stationären Aufenthaltes. Bei den handchirurgischen Eingriffen ist nur ein sehr leichter Rückgang erkennbar.
Diskussion
Die Regelung AvS zeigt auch im UVG/MVG-Bereich Wirkung: Alle Kurven zeigen den Beginn der Verschiebung bereits deutlich vor Einführung der Regelung und erreichen dann ein Plateau. Hier wird davon ausgegangen, dass dieses Plateau durch die aktuellen medizinischen Gegebenheiten und gesetzlichen Rahmenbedingungen begründet ist.
Kniearthroskopien
Die initiale Verlagerung in den ambulanten Bereich entspricht dem Ziel der Regelung. Der Anteil stationär durchgeführter Kniearthroskopien ist von 67 % (2017) auf 43 % (2023) gesunken. Der stärkste Rückgang an stationären Eingriffen fand von einem Jahr vor Einführung der Regelung bis ein Jahr danach statt. Im Gegensatz zum KVG zeigt sich im UVG/MVG eine leichte Rückverschiebung der Fälle in den stationären Bereich. Für eine Begründung des Unterschiedes sind vertieftere Analysen notwendig.
Osteosynthesematerialentfernungen
Bei den OSME zeigt sich eine konstante Verschiebung in den ambulanten Bereich (42 % stationär 2017 vs. 27 % stationär 2023), jedoch keine zusätzliche Verschiebung mit der Einführung der AvS-Liste am 1. Januar 2023. Die Verschiebung scheint vorrangig durch andere Effekte begünstigt worden sein (z. B. die Entwicklung der Medizin). Das Kosten- gewicht ist ähnlich den anderen Eingriffsgruppen gestiegen und der Anteil an Kurzaufenthalten hat abgenommen. Auch die Entwicklung in den unterschiedlichen Sozialgesetzen zeigt keine Unterschiede.
Handchirurgische Eingriffe
Die handchirurgischen Eingriffe zeigen ein sehr unterschiedliches Bild zwischen dem KVG und dem UVG/MVG: Während im KVG-Bereich 7 % der Eingriffe stationär durchgeführt werden, sind es im UVG/MVG-Bereich 40 %. Aufgrund der Auffälligkeit wurden weiterführende Analysen durchgeführt. Der hohe Anteil an stationären Fällen betrifft den Unfallversicherungsbereich und nicht das MVG. Aus medizinischer Sicht sind bei der Erstversorgung nach einem Unfall Behandlungen an der Hand häufiger in Kombination mit anderen Verletzungen zu erwarten als bei krankheitsbedingten Verläufen. Die höhere Komplexität kann einen stationären Aufenthalt eher notwendig machen. Der grosse Unterschied zwischen den Sozialversicherungsgesetzen zeigt ein unterschiedliches Vorgehen bei den handchirurgischen Eingriffen auf. Möglicherweise kann von einem ambulanten Potenzial gesprochen werden. Hinweise darauf, dass die hohe stationäre Behandlungsrate im Vergleich zum KVG notwendig ist, geben die unterschiedlichen notwendigen Behandlungen bei unfallbedingten vs. krankheitsbedingten Handverletzungen, die konstanten Werte bei den Kurzaufenthalten im stationären Bereich und die tiefere Kostengewichtsentwicklung. Bei den anderen Eingriffsgruppen sah man hier viel stärkere Veränderungen. Vertieftere Analysen sind notwendig, um diesen Unterschied zu erklären.
Schlussbemerkungen
Obwohl ein Vergleich der Umsetzung der Ambulantisierung aufgrund der AvS-Liste zwischen den Sozialversicherungsgesetzen aufschlussreich ist, müssen die Unterschiede zwischen den einzelnen Gesetzen berücksichtigt werden. So sind beispielsweise die Patienten- gruppen unterschiedlich, das UVG hat einen starken Fokus auf die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit und übernimmt auch die Taggelder. Dies würde eine Analyse über die Gesamtkostenentwicklung anstatt nur der Heilkosten spannend machen.
Neben der AvS-Liste haben auch der medizinische Fortschritt, weitere regulatorische Vorgaben wie die grundsätzliche Forderung der wirtschaftlichen und zweckmässigen Leistungserbringung, Tarifanreize, der zunehmende Kostendruck, verbesserte Nachsorge- strukturen sowie die Präferenzen der Patientinnen und Patienten zur Ambulantisierung beigetragen. Wie stark und zu welchem Zeitpunkt die einzelnen Faktoren jeweils auf die Verschiebung in den ambulanten Bereich eingewirkt haben, lässt sich jedoch nur schwer quantifizieren.
Für die nachhaltige Fortsetzung des Trends sind auch aktuelle Reformen entscheidend – insbesondere wird eine Wirkung durch die Einführung eines neuen ambulanten Tarifsystems sowie die geplante einheitliche Spitalfinanzierung erwartet, welche im UVG seit 2012 bereits Realität ist. Diese weitreichenden Reformen, die vielfältigen praktischen Umsetzungen und der weitere medizinische Fortschritt stimmen zuversichtlich für die Weiterentwicklung der ambulanten Versorgung. Eine Erweiterung der AvS-Liste mit weiteren Eingriffsgruppen durch den Bund ist per 01.01.2026 vorgesehen.
Die Interaktionen von regulatorischen, medizinischen und ökonomischen Faktoren auf die Ambulantisierung zeigen die Komplexität des Themas auf. Weiterführende Studien wären notwendig, um die Zusammenhänge besser zu verstehen.
Korrespondenzadresse
Angelina Hofstetter
Zentralstelle für Medizinaltarife UVG, Suva
Literaturverzeichnis
- Bundesamt für Gesundheit BAG. Ambulant vor Stationär. Available at: https://www.bag.admin.ch/de/ambulant-vor-stationaer
. Accessed January 20, 2025. - Roth S, Pellegrini S. L’ambulatoire avant le stationnaire. Actualisation 2023 du monitorage de la limitation de la prise en charge stationnaire (selon OPAS, art. 3c et annexe 1a). Rapport établi sur mandat de l’Office fédéral de la santé publique (OFSP). Neuchâtel: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium Obsan. 2025.