Die attestierte Arbeitsunfähigkeit: Routine oder Herausforderung?
Jeden Tag beurteilen wir in unseren Sprechstunden die Arbeitsfähigkeit unserer Patientinnen und Patienten. Haben wir die Nebenwirkungen der Arbeitsunfähigkeitsatteste im Griff, wie bei jedem Medikationsrezept? Kennen wir diese überhaupt? Wie sieht die Einbettung in den Genesungsprozess aus?
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Inhalt
Autorenschaft
Christoph Bosshard, Versicherungsmedizin Suva
Wer kennt es nicht? Gross ist die Vorfreude auf die baldigen Ferien, jetzt beruflich noch einen Endspurt durchziehen – und dann legt uns ein hinterlistiges Virus kurz vor der Ziellinie flach. Nein, bitte nicht jetzt! Hoffentlich geht es schnell vorbei. Wenn nicht, suchen wir ärztliche Hilfe auf. Mit ernster Miene werden wir dann ermahnt, uns Sorge zu tragen und in unserem Alltag zu pausieren. So haben wir das jetzt wirklich weder geplant noch gewollt.
Glücklicherweise dauern diese Situationen in den allermeisten Fällen nur kurz. Wie aber ergeht es uns, wenn dies nicht so ist? Welche Vorstellungen und Ängste beginnen uns zu beschleichen, wenn wir längere Zeit ausfallen, wenn wir ohne unser gewohntes berufliches Umfeld, unsere Kolleginnen und Kollegen, ohne die vertraute Tagesstruktur dastehen? Werden wir noch Rollen und Funktionen finden, die sich mit unseren Wünschen und Vorstellungen decken? Oder ganz konkret: Werde ich im schlimmsten Fall meine Familie noch ernähren können? Werde ich meine geliebten Hobbys noch ausführen können? Was bin ich noch wert?
Welche Grundlagen finden wir Ärztinnen und Ärzte auf formeller Ebene?
Glücklicherweise ist die Realität oft deutlich gnädiger mit uns als unsere eigenen Vorstellungen. Aber wenn wir nun bei der Realität bleiben wollen: Kennen wir ganz abgesehen von den sehr zentralen obigen Punkten im ärztlichen Alltag und in unserem angestammten medizinischen Fachgebiet auch die formellen Grundlagen einer Arbeitsfähigkeitsattestierung genügend, in deren Kontext wir unser ärztliches Wissen einzubringen haben? Als Ärztinnen und Ärzte fällt es uns von unserer naturwissenschaftlich geprägten Herkunft her nicht leicht, in die juristische Denkweise einzutauchen. Dementsprechend hat das Bundesgericht in seinem Urteil 9C_850/2013 12.06.2014
«Solche von der soziokulturellen Belastungssituation zu unterscheidende und in diesem Sinne verselbstständigte psychische Störungen mit Auswirkungen auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit sind unabdingbar, damit überhaupt von Invalidität gesprochen werden kann. Wo der Gutachter dagegen im Wesentlichen nur Befunde erhebt, welche in den psychosozialen und soziokulturellen Umständen ihre hinreichende Erklärung finden, gleichsam in ihnen aufgehen, ist kein invalidisierender psychischer Gesundheitsschaden gegeben.» (E. 5)
In der Folge der Indikatoren-Rechtsprechung vom 03. Juni 2015 141 V 281 - Schweizerisches Bundesgericht
Wie sieht die ärztliche Realität aus?
Wir sprechen hier nicht von den im ärztlichen Alltag häufig auftretenden Situationen von Patientinnen und Patienten mit einem akuten gesundheitlichen Problem, sondern von sich chronifizierenden Situationen.
Dass Arbeitsunfähigkeit auch krank machen kann, dies im Sinne von relevanten psychischen Ko-Morbiditäten, ist eine ernst zu nehmende Tatsache, umso mehr als dieser Effekt bereits ab einer gesundheitsbedingten Abwesenheit vom Arbeitsplatz von mehr als drei Wochen auftritt. Um solche möglichst zu verhindern, gilt es, in der Akutsituation eine Arbeitsunfähig- keitsattestierung mit der gleichen Achtsamkeit zu handhaben wie ein Medikationsrezept. Bei Letzterem machen wir uns ja auch Gedanken zur Art der Medikation und deren Dosierung sowie Nebenwirkungen und Interaktionen. Gleiches gilt für die Arbeitsunfähigkeit: Beträgt sie 100 Prozent, so sind die Nebenwirkungen im Sinne des Verlusts der Tagesstruktur und der angestammten Rolle zu beachten. Eine möglichst baldige zeitbezogene Rückkehr an den Arbeitsplatz ist daher anzustreben, wobei erst darauffolgend eine Belastungssteigerung berücksichtigt wird. Hierfür gibt es die Möglichkeit der Teilarbeitsfähigkeitsattestierung. Damit kann möglichst rasch zu einer Tagesstruktur gefunden und der ansonsten täglich wachsenden Angst vor einer Rückkehr an den Arbeitsplatz begegnet werden. Bereits kleine Arbeiten wie Überwachungs- oder Anleitungstätigkeiten sind hier hilfreich und stärken auch das Rollenverständnis und Selbstwertgefühl. Auch erhalten Arbeitgebende sowie Kolleginnen und Kollegen die Möglichkeit, bei der Reintegration von Erkrankten und Verunfallten mitzuhelfen. Beide Grössenordnungen «Zeit» und «Belastung» sind bei einer Teilarbeitsfähigkeitsbescheinigung zu präzisieren.
Zum Beispiel ergibt eine 50-Prozent-Anwesenheit verbunden mit einer 50-Prozent-Belastbarkeit in der angestammten Tätigkeit eine Verwertbarkeit von 0,5 x 0,5 = 0,25 was einer AUF von 75 Prozent entspricht. Bezüglich der Belastbarkeit sind die Arbeitgebenden sehr dankbar für möglichst konkrete Vorgaben im Kontext der angestammten beruflichen Tätigkeit. Ärztlicherseits ist darauf zu achten, dass im Rahmen des AUF-Zeugnisses keine Diagnosen oder Hinweise auf solche weitergegeben werden.
Die wichtige Rolle der Arbeitgebenden
Und nun braucht es noch die Bereitschaft und Möglichkeit seitens der Arbeitgebenden, gerade in der schrittweisen Wiedereingliederung Hand zu bieten. Es ist bereits schwierig, einen Ausfall zu kompensieren. Nun muss also auch noch ein Schonarbeitsplatz geschaffen werden. Auch dieser sozialen Herausforderung stellen sich die Arbeitgebenden, da die Mitarbeitenden eine zentrale strategische Ressource darstellen. Im Idealfall profitieren sie auch direkt von diesem Engagement, und zwar nicht nur in Form der zügigeren Verfügbarkeit ihrer Mitarbeitenden, sondern gerade im UVG auch durch die damit verbundene Verminderung der Taggeldkosten. Diese wirken sich bei mittelgrossen und grossen Betrieben als Minderung des Schadenvolumens auf die zu bezahlende Prämie aus.
Fazit
Die Attestierung einer Arbeitsfähigkeit ist nicht nur eine komplexe Aufgabe für uns Ärztinnen und Ärzte, sondern hat bei richtiger Nutzung auch positive Effekte für Patientinnen und Patienten. Daher sollte eine Krankschreibung wie eine Arzneimittelverordnung gehandhabt werden:
- Der Entschluss muss auf einer fundierten Grundlage beruhen.
- Der Verordnung muss ein klares Konzept zugrunde liegen – eine schrittweise Arbeitsaufnahme ist nicht nur das Ziel, sondern auch ein wichtiges therapeutisches Element der – in der Regel kontinuierlich verlaufenden – Rehabilitation und Wiedereingliederung.
- Unerwünschte Wirkungen der Absenz vom Arbeitsplatz sind in Betracht zu ziehen.
- Der Verlauf auch der Wiedereingliederung ist sorgfältig zu überwachen und die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nötigenfalls anzupassen.
- Möglichst lange Präsenzzeiten (unter Anpassung der Belastungsintensität) erleichtern es den Patientinnen und Patienten, in engem Kontakt mit den Arbeitskolleginnen und -kollegen der Firma zu bleiben.
In schwierigen Situationen kann die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit auch an den versicherungsmedizinischen Dienst des zuständigen Kostenträgers oder – in Absprache mit diesem – an eine andere Abklärungsstelle weitergeleitet werden.
Gerne sprechen wir mit Ihnen detailliert über dieses wichtige Thema anlässlich unserer Tagung vom 12. September 2025 in der Welle7 in Bern. Dort werden die diversen Sichtweisen dargelegt und es besteht auch Raum für Fragen und Diskussion. Ich freue mich auf eine rege Teilnahme und Diskussion!
Korrespondenzadresse
Dr. med. Christoph Bosshard
Suva Versicherungsmedizin
Laupenstrasse 11
3008 Bern