Arbeitsunfähigkeitsbeurteilung anhand Fall-Vignetten
Die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit hat mit der gleichen Achtsamkeit zu erfolgen, wie dies bei einer Arzneimittel-Verordnung angezeigt ist. Die schrittweise Wiederaufnahme der Arbeit soll als Teil des therapeutischen Konzepts verstanden werden. Krank-Schreiben kann auch krank machen.
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Inhalt
Autorenschaft
Dr. med. Christoph Bosshard, Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates, Suva Versicherungsmedizin
Die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit wird häufig unterschätzt. Die Grundlagen dafür sind Kenntnisse der medizinischen Situation respektive die daraus folgenden Einschränkungen der Fähigkeiten sowie die Anforderungen an unsere Patientinnen und Patienten in ihrem beruflichen Alltag. Hinzu kommt die wissenschaftlich untermauerte Erkenntnis, dass der Verlust der Tagesstruktur, der sozialen Kontakte, des Selbstwertgefühls und die zunehmenden Zukunftsängste für sich allein zur Krankheitslast beitragen, was leider allzu oft unterschätzt oder sogar ignoriert wird. Folgende Beispiele illustrieren diese Herausforderungen und zeigen Lösungsansätze auf.
Fall 1: Junge, dynamische Pflegefachfrau
Eine 28-jährige diplomierte Pflegefachfrau erleidet eine Lungenentzündung, wird sauerstoffpflichtig und muss deshalb hospitalisiert werden. Bereits in den ersten Tagen fühlt sie sich wie im falschen Film. Als Pflegefachfrau gehöre sie doch an das Krankenbett und nicht in das Krankenbett! Auch wenn die Vorgesetzten sowie die Kolleginnen und Kollegen ihre volle Unterstützung signalisieren, bleibt doch eine Art schlechtes Gewissen, das Team im Stich lassen zu müssen. Aber die Kräfte reichen gerade knapp dazu, im Spitalgang und auf der Treppe langsam von Stockwerk zu Stockwerk gehen zu können.
Ein erster Arbeitsversuch nach Spitalentlassung und einer ambulanten Therapiephase scheitert, weil die Arbeitsschichten nun einmal als solche gegeben sind und die attestierte Teilarbeitsfähigkeit sich lediglich auf die Anzahl Arbeitstage bezieht und die Intensität der Schichtarbeit nicht berücksichtigt. Darauffolgend werden die ärztlichen Vorgaben zur Arbeitsfähigkeit präzisiert auf 50 % Leistungsfähigkeit sowie 50 % zeitlicher Einsatz.
Der Arbeitgeber ist ratlos. Wie mit der Vorgabe der 50 %-Leistungsfähigkeit umgehen? Schicht ist halt nun einmal Schicht. Der Mitarbeiterin wird signalisiert, sie solle doch einfach erst zurückkommen, wenn sie wieder vollständig genesen sei. Die Patientin sucht jedoch die berufliche Herausforderung als Training und bittet den Arbeitgeber um entsprechendes Entgegenkommen im Sinne einer leistungsangepassten Tätigkeit. Es kommt Innovations- geist auf: Eine Springerfunktion wird geschaffen. Damit ist keine Schichtverantwortung verbunden, sondern die Mitarbeiterin kann gezielte und komplexere Aufgaben übernehmen. Die neu geschaffene Funktion trägt spürbar zur Entlastung des ganzen Teams bei und fördert eine effiziente Umsetzung der Teamaufgaben. Damit gelingt die Rückkehr an den Arbeitsplatz und der Einsatz lässt sich bezüglich Intensität und Zeit sukzessive in Richtung einer 100 % Arbeitsfähigkeit steigern. Damit konnte eine Win-win-Situation erreicht werden. Nicht immer ist es möglich, zusammen mit den Arbeitgebenden solche Lösungen im Sinne von Schon-Arbeitsplätzen zu finden. Die Kostenträger der Taggelder, im Krankheitsfall die Taggeld-Versicherung, bei Unfällen und Berufskrankheiten der UVG-Versicherer, können hier die Ärztinnen und Ärzte unterstützen. Eine Kontaktaufnahme mit dem Schadenmanagement lohnt sich!
Fall 2: Angelernter Bauarbeiter, 58-jährig
Ein 58-jähriger angelernter Bauarbeiter leidet unter belastungslimitierenden Restbeschwerden nach Handgelenksteilversteifung rechts dominant, welche eine Rückkehr in die angestammte Funktion verunmöglichen. Als angelernter Bauarbeiter gehört er in den Niedriglohnbereich. Aufgrund seines Alters und der fehlenden Grundausbildung kommen Umschulungen durch die Invalidenversicherung (IV) nicht in Betracht. Das an die Unfallfolgen angepasste Belastbarkeitsprofil führt zu einem voraussichtlichen Invalideneinkommen, welches nur geringfügig (weniger als 10 %) unter dem bereits niedrigen Valideneinkommen liegt. Da für eine Rentensprechung im UVG mindestens eine Einkommenseinbusse von 10 % und im IVG von mindestens 40 % vorliegen muss, kann hier weder von der Suva noch von der IV eine Rente gesprochen werden.
Vor diesem Hintergrund kann glücklicherweise auf einen angestammten Arbeitgeber abgestützt werden, welcher seinen langjährigen Arbeitnehmer sehr schätzt und ihm eine nach Möglichkeit weitgehend leidensangepasste Tätigkeit in der Lagerbewirtschaftung offerieren kann, welche der Mitarbeiter gerne annimmt. Die behandelnde Ärztin kontaktiert daraufhin die Suva und äussert energisch ihr Unverständnis darüber, dass die Suva ihren Patienten entgegen ihrer medizinischen Beurteilung einer teilweise zu hohen Belastung in der neuen Tätigkeit aussetzen würde. In einem kollegialen Gespräch werden die Sachverhalte und sozialversicherungstechnischen Mechanismen geklärt. Bei Verlust der jetzigen Arbeitsstelle droht dem Patienten mit grosser Wahrscheinlichkeit eine Arbeitslosigkeit und schliesslich der Gang auf das Sozialamt nach der Aussteuerung. Wir sind uns einig, dass diese Option noch schlechter wäre als die aktuelle bisweilen etwas überlastende Arbeit, welche vom Patienten als solche zurzeit recht ordentlich ausgeführt werden kann.
Die Tatsache, dass es bei medizinisch begründeten Einschränkungen in dem einem Fall eine Rente gibt und in einem anderen Fall nicht, führt immer wieder zu Befremden und dem Verdacht einer ungleichen Behandlung. Die rententechnischen Berechnungen umfassen jedoch den Vergleich zwischen Valideneinkommen und voraussichtlichem Invaliden- einkommen. Auch wenn die auf einem Belastbarkeitsprofil beruhende Berechnung des Invalideneinkommens schliesslich gleich ausfällt, ist das Valideneinkommen, wie oben beschrieben, je nach Ausgangslage doch recht unterschiedlich. Solche Berechnungen sind zwar keine Aufgabe der Medizin, wie dieses Beispiel aber zeigt, ist es für Ärztinnen und Ärzte wichtig, die Grundlagen dieser Berechnungen zu kennen. Bisweilen ist es notwendig und besser, eine Arbeitssituation auszutesten und zu begleiten, wenn keine Alternative abgesehen von der Sozialhilfe verfügbar ist.
Fall 3: Schulter/Ellbogenverletzung mit 100 % Arbeitsunfähigkeit (AUF) für mindestens drei Monate bei einem 45-jährigem Maler/Gipser
Ein 45-jähriger Maler/Gipser erleidet beim Downhill-Biken eine Schlüsselbeinfraktur links adominant, welche operativ reponiert und mittels Plattenosteosynthese stabilisiert wird. Der behandelnde Traumatologe attestiert eine AUF für die angestammte Tätigkeit von 100 % für drei Monate.
Nach vier Wochen meldet sich der Arbeitgeber beim behandelnden Traumatologen und legt eine Einverständniserklärung des Patienten vor, welche den behandelnden Traumatologen in diesem Zusammenhang von der ärztlichen Schweigepflicht gegenüber dem Arbeitgeber entbindet. Der Arbeitgeber teilt mit, dass der Patient sehr unter der Untätigkeit leide, welche ihm auferlegt worden sei. Ebenfalls fehlten ihm die kollegialen Kontakte und die Tages- struktur. Die Decke falle ihm auf den Kopf. Deshalb würde seitens Arbeitgeber gerne ein Tätigkeitsbereich geschaffen, in welchem der Patient unter Ausschluss des betroffenen linken Armes und ohne zeitlichen Druck Überwachungsaufgaben ohne Maschinenbedienung oder absturzgefährdeten Gerüstpositionen wahrnehmen könne.
Der behandelnde Arzt weist darauf hin, dass der Mitarbeiter zusätzlich die Möglichkeit zu selbst definierten Pausen benötigen werde und auch für die notwendige Therapie (inklusive tägliches Durchführen der erlernten Übungen) genügend Zeit erhalten müsse. Somit einigt man sich auf eine primär ganztägige Präsenz, wovon die Pausen und Trainingszeiten schliesslich 50 % absorbieren werden, was rechnerisch in einer 50 %-Anwesenheit mündet. Bezüglich Belastbarkeit unter Ausschluss des verletzten Armes und der daraus folgenden zusätzlichen Einschränkungen, die eine Selbst- oder Fremdgefährdung verhindern sollen, resultieren noch 25 % Belastbarkeit.
Somit wird dem Patienten mit ganztägiger Präsenz unter Gewährung von genügend Pausen- und Therapiezeiten eine AUF von 87,5 % attestiert. Dies resultiert aus einer Belastbarkeit von 25 % x Zeit 0,5 (0,25 x 0,5 = 0,125) entspricht 12,5 % Arbeitsfähigkeit.
Der behandelnde Arzt plant zur Überwachung eine klinische Verlaufskontrolle in vier Wochen ein und bittet den Arbeitgeber um einen Bericht zeitnahe vor diesem Termin. Mittels dieser Schritte gelingt es, die Restfähigkeiten des Patienten zu nutzen und zu fördern, ihm eine Tagesstruktur zu geben, die Kontakte zu seinen Kolleginnen und Kollegen zu ermöglichen und die Ängste vor der Rückkehr an den Arbeitsplatz zu beseitigen. Dies beeinflusst insgesamt die Genesung deutlich positiv und legt ab ärztlicher Belastungsfreigabe die Grundlage, die Arbeit gleich als Training zu nutzen.
Fall 4: Krank während der Ferien
Eine 35-jährige Direktionsassistentin meldet sich in der Sprechstunde an, da sie ein Arztzeugnis benötige. Anlässlich der Konsultation gibt sie an, aktuell vollständig beschwerdefrei zu sein, jedoch während der Ferien in den vergangenen zwei Wochen am Meer sie aufgrund eines viralen Infekts mit Kopfschmerzen und Husten während fünf Tagen das Hotelbett habe hüten müssen. Sie möchte nun diese Tage nicht als Ferientage gelten lassen, da sie sich in dieser Zeit nicht von der Arbeit erholen konnte. Fachliche Hilfe habe sie nicht in Anspruch genommen.
In solchen Situationen ist es ratsam, sich die geltenden rechtlichen Grundlagen vor Augen zu führen. Der juristische Leitfaden der SAMW/FMH Inhaltsverzeichnis | Rechtlicher Leitfaden für die Praxis
Fall 5: Krank nach Kündigung
Ein 56-jähriger Architekt meldet sich wegen exazerbierter Rückenschmerzen mit diffuser Ausstrahlung in die unteren Extremitäten. Die Rückenprobleme sind bereits langjährig bekannt. In der klinischen Untersuchung können keine spezifischen Befunde erhoben werden, ebenfalls nicht in der Bildgebung inklusive MRI, welche in Anbetracht der langen Dauer der Beschwerden durchgeführt wurde. Im weiteren Gespräch tritt ein Arbeitsplatz- konflikt zutage, welcher schliesslich in einer Kündigung mündet. Am Kündigungstag meldet sich der Patient mit nun invalidisierenden Schmerzen und verlangt ein Arbeitsunfähigkeitszeugnis.
Die klinischen Befunde sind unverändert unspezifisch. Der Patient lehnt eine Rückkehr an den Arbeitsplatz kategorisch ab. Die Situation gestaltet sich schwierig, denn ein medizinisches Korrelat für die Beschwerden, insbesondere deren Exazerbation, findet sich weder bildgebend noch klinisch. Die Sprechstundenzeit ist beschränkt, das Wartezimmer voll und weitere Notfälle angemeldet. Oft wird hier die schnelle Lösung in einer Krank- schreibung gesehen. Dies löst das Problem aber nicht, denn der zugrunde liegende Arbeitsplatzkonflikt wird damit nicht beseitigt. Ebenfalls wirft eine solche Krankschreibung Fragen nach deren Grundlage auf, welche es später zu beantworten gibt, sei es gegenüber dem Arbeitgeber oder auch der Taggeldversicherung. Der Arbeitgeber hat die Möglichkeit, eine vertrauensärztliche Untersuchung in die Wege zu leiten, die Taggeldversicherung greift auf ihren medizinischen beratenden Dienst zurück. Von beiden Seiten werden nun Fragen betreffend Begründung und Untermauerung der AUF-Attestierung in den Raum gestellt.
Schneller als erwartet sehen wir uns mit der Dualität unserer zugewiesenen Rollen konfrontiert: Auf der einen Seite in der verantwortungsvollen Rolle als Behandler gegenüber dem Patienten, auf der anderen Seite in der unabhängigen Position, die sich allein an medizinischen Fakten und geltenden rechtlichen Grundlagen orientiert. Wäre es also nicht besser gewesen, keine AUF-Attestierung auszustellen? Falls der Patient trotz entsprechender Erklärung weiterhin auf eine AUF-Bescheinigung besteht, sollte man ihm erklären, dass es in dieser Situation sinnvoller ist, als Behandler seine Betreuung und Unterstützung in dieser herausfordernden Lage fortzusetzen und die Entscheidung über die Beurteilung der AUF aufgrund fehlender medizinischer Grundlagen an eine unabhängige Stelle, die nicht in die Behandlung involviert ist, zu übertragen.
Hierfür kann man an die Vertrauensärztinnen und -Ärzte der Betriebe sowie an die Kostenträger der Taggelder verweisen, welche beide aus Gründen der Kostentragung über den Arbeitgeber zu kontaktieren sind.
Mir ist bewusst, dass ich mit diesen Fallbeispielen nicht alle Fragen abschliessend klären konnte und allenfalls noch neue Fragen aufgeworfen habe. Die stetige Auseinandersetzung mit solchen Herausforderungen ist ein wesentlicher Bestandteil der ärztlichen Tätigkeit und soll auch Eingang in die medizinischen Fallbesprechungen im Kollegenkreis bis hin zu den Jahreskongressen finden.
Korrespondenzadresse
Dr. med. Christoph Bosshard
Suva Versicherungsmedizin
Laupenstrasse 11
3008 Bern